Erfurter Blutaffäre flammt neu auf:Schwerer Vorwurf gegen die Nada

Lesezeit: 3 min

Die Dimension der Erfurter Blutaffäre ist offenbar viel größer als bisher angenommen, der Generaldirektor der Welt-Anti-Doping-Agentur erhebt schwere Vorwürfe gegen die deutschen Kollegen. Der deutsche Sport könnte vor jenem gewaltigen Doping-Skandal stehen, von dem es noch Ende April hieß, er habe sich weitgehend in Luft aufgelöst.

Claudio Catuogno

Am kommenden Montag hätte sich der deutsche Sport ohnehin wieder mit der Erfurter Blutaffäre befassen müssen: Dann wird das Sport-Schiedsgericht sein Urteil im Fall der Eisschnellläuferin Judith Hesse bekanntgeben. Hesse zählt zu jenen 30 Athleten, die ihr Blut bei dem Erfurter Arzt Andreas Franke manipulieren ließen: Es wurde in kleinen Dosen abgenommen, mit UV-Licht bestrahlt und wieder zurückgeführt, angeblich, um Infektionen vorzubeugen.

Ob Hesse gesperrt wird, weil eine solche Blutinfusion als verbotene Doping- Methode gilt, wird sich also erweisen. Kurz vor dem Urteilsspruch ist nun aber neue Brisanz in die Erfurter Affäre gekommen. Die Nationale Anti-Doping-Agentur (Nada) steht am Pranger.

Am Montagmorgen kam eigens David Howman aus Montreal eingeflogen, der Generaldirektor der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada. Er gab am Frankfurter Flughafen zwei Interviews - und entschwand wieder. Kern seiner Botschaft an die deutsche Öffentlichkeit: Die Dimension der Affäre sei viel größer als bisher angenommen. Und die Art und Weise, wie die Nada den Fall bearbeite, sei inakzeptabel.

Schnell, in Einzelfällen möglichst noch vor den Olympischen Spielen Ende Juli in London, sagte Howman am Dienstag der SZ, müssten nun Verfahren gegen betroffene Athleten vor die Sportgerichtsbarkeit gebracht werden. Der deutsche Sport stünde demnach doch vor jenem ziemlich gewaltigen Doping-Skandal, von dem es noch Ende April hieß, er habe sich weitgehend in Luft aufgelöst.

Bisher sind Hesse und der Radfahrer Jakob Steigmiller die einzigen, gegen die von der Nada ein Verfahren eröffnet wurde. Sie waren auch im Jahr 2011 noch bei Franke, seither wird die Methode im präzisierten Wada-Code zweifelsfrei als Dopingpraxis benannt. Über die Zeit vor 2011 bestand bisher Uneinigkeit.

Zwar hatte Howman selbst schon im Februar im SZ-Interview erklärt, die UV-Bestrahlung von entnommenem Sportlerblut sei als Blutdoping zu werten, sie stehe - indirekt - schon seit Jahren auf der Verbotsliste. Ende April veröffentlichte die Nada dann aber ein Schreiben der Wada, in welchem die Auffassung vertreten wurde, die Erfurter Praktiken seien erst ab 2011 von den Dopingregeln erfasst. 28 der 30 Athleten schienen aus dem Schneider zu sein, unter ihnen die Eisschnellläuferin Claudia Pechstein, die in der Zeit vor 2011 Kundin bei Franke war.

Bei der Nada brachte das Wada-Schreiben die Bemühungen, diese Fälle weiterzuverfolgen, weitgehend zum Erliegen. In einem internen Schreiben, das der SZ vorliegt, heißt es: "Soweit sich keine anderen Anhaltspunkte, z.B. durch das ausstehende Gutachten von Herrn Prof. Dr. Dr. Heiko Striegel ergeben", werde die Nada diese Fälle nicht juristisch weiterverfolgen. Doch über diese Wada-Stellungnahme sagte Howman nun der ARD in bemerkenswerter Offenheit: "Da uns Informationen fehlten, ist diese Einschätzung hinfällig. Unvollständige Informationen ergeben keine finale Antwort. Sie ist nichts wert."

Zunächst einmal lässt Howman durchblicken, dass es auch in seiner Behörde in der Causa Erfurt einige Missverständnisse gab. Es sieht etwa danach aus, dass nicht alle Mitglieder des Medikations-Komitees, das die Unbedenklichkeitsbescheinigung ausgestellt hat, befragt worden sind. Und wenn doch, dann auf der Basis falscher Informationen. Richard Budgett, der Chef der Expertengruppe, soll beispielsweise geglaubt haben, in Erfurt seien die Sportler über die Haut mit UV-Licht bestrahlt worden, von der Blutentnahme und der anschließenden Rückführung, also dem Kern des Problems, hat er offenbar nichts gewusst.

Wie das sein kann? Howman sagt, die Nada habe wichtige Informationen zurückgehalten beziehungsweise "die falschen Fragen gestellt". Den Vorwurf wiesen die Nada-Geschäftsführer Lars Mortsiefer und Andrea Gotzmann am Dienstag empört zurück. Die öffentliche Schlammschlacht widerlegt aber zumindest nicht das unglückliche Bild, welches das Nada-Führungsduo zuletzt mehrfach abgab.

Dagmar Freitag, Vorsitzende des Sportausschusses im Bundestags und zugleich Mitglied im Nada-Aufsichtsrat, sagte der SZ, die Nada habe sich in der Causa Erfurt bisher "nicht mit Ruhm bekleckert". Howmans Vorwurf sei "heftig", Freitag will nun klären, "was da Sache ist". Ab sofort müssten jedenfalls die richtigen Fragen gestellt werden: "Die Frage, ob die Methode leistungsfördernd war, ist irrelevant", sagt Freitag. "Entscheidend ist die Frage: War sie verboten?" Da scheint die Sachlage seit Howmans Blitzbesuch wieder eindeutig zu sein.

© SZ vom 06.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: