England:Schicksalsspiel für den Zocker

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Nationaltrainer Hodgson findet die Abschlussschwäche seiner Stürmer nicht so dramatisch. Doch das ändert nichts daran, dass es nun auch um seine Zukunft geht.

Von Ulrich Hartmann, St. Étienne

Die englischen Fans waren besorgt. Immer wieder stimmten sie im Verlauf des finalen Gruppenspiels die Nationalhymne an. Und wenn Fans ihre Nationalhymne singen, dann wollen sie damit an die Ehre der Fußballer auf dem Rasen appellieren. Aber die Engländer haben, als sie wiederholt inbrünstig "Gott schütze die Königin" sangen, sicher auch mal daran gedacht, was wohl im Laufe der Jahrhunderte aus ihrem stolzen Königreich geworden wäre, wenn alle, auf deren Zielgenauigkeit bei der Verteidigung der Königin Verlass sein musste, genauso schlecht getroffen hätten wie die englischen Fußballer bei dieser Europameisterschaft.

65 Schüsse haben sie in der Vorrunde binnen drei Mal 90 Minuten auf die gegnerischen Tore abgefeuert. Drei Treffer haben sie erzielt. Einen gegen Russland (1:1), zwei gegen Wales (2:1) und am Montagabend keinen gegen die Slowakei (0:0). Wer so miserabel trifft, hat die Gruppenführung und damit ein Achtelfinale in der Hauptstadt Paris nicht verdient. England ist bloß Zweiter geworden in der Gruppe B und muss nun im äußersten Südosten in Nizza spielen. Die Côte d'Azur als Strafe? So schlimm ist es nicht. Dafür, dass der Nationaltrainer Roy Hodgson bei der Bilanzierung der Vorrunde in jedem dritten Satz das Wort "frustrierend" benutzte, schaute er gar nicht so frustriert drein.

Wenn Trainer ihre Fußballer in hoher Frequenz das Tor nicht treffen sehen, dann nehmen sie die immerhin zahlreich herausgespielten Chancen zum Anlass für Optimismus. "Wenn sie so weiterspielen, werden sie auch irgendwann treffen", sagte Hodgson nach der Nullnummer gegen die Slowakei. "Den Knoten lösen, den Bock umstoßen, die Dose öffnen" - das sind Äquivalente aus dem Vokabular deutscher Profis, aber Hodgson ersparte sich allzu blumige Metaphern, um nicht den Eindruck zu erwecken, die maue Chancenverwertung und der zweite Platz hinter dem Erzrivalen Wales ließen ihn kalt.

Hodgson bilanzierte wie viele Trainer: Die Anzahl der erspielten Chancen und Torschüsse (28:4 gegen die Slowakei) interessiert ihn in der Spielanalyse fast mehr als die Treffer - auch wenn natürlich letztere bei dieser EM über Triumph und Schmach entscheiden und damit auch über das Schicksal des 68-Jährigen. Seit vier Jahren ist er Coach des Nationalteams, und es heißt, wenn er in Frankreich nicht mindestens das Viertelfinale erreicht, dann könnte seine Zeit als Coach zu Ende sein.

Dafür ist Hodgson erstaunlich entspannt nach einer Vorrunde, die statistisch als Debakel bezeichnet werden muss; eine Vorrunde, welche die Briten allerdings auch drei Mal als souveränes, kreatives und spielästhetisches Kollektiv gezeigt hat. "Wir waren drei Mal das dominante Team", sagte Hodgson trotzig, "deshalb glaube ich fest daran, dass unsere Zeit bei diesem Turnier noch kommt." Die Unentschieden gegen die offensiv und defensiv schwachen Russen sowie die nur offensiv schwachen Slowaken findet Hodgson "enttäuschend, ja frustrierend" - "aber so wie wir bis jetzt gespielt haben, darf jeder zukünftige Gegner von uns ein schwieriges, hartes Match erwarten".

Zu beweisen wäre dies zunächst am Montag in Nizza gegen Ungarn, Island, Portugal oder Österreich. Wer in der Gruppe F Zweiter wird, entscheidet sich an diesem Mittwochabend. Gewinnen die Briten dieses Spiel, dann könnte es im Viertelfinale zum Duell mit Frankreich kommen. Der hat allerdings ein vergleichbares Problem.

Weil sie dem englischen Spiel und dem Einsatz der Fußballer trotz der vielen vergebenen Chancen nicht so richtig einen Vorwurf machen konnten, stürzten sich die englischen Medien in der Nachbetrachtung auf den Trainer Hodgson und seine Idee, die zuvor zwei Mal unveränderte Startelf gegen die Slowakei auf sechs Positionen zu verändern. "Roys Rotation" wurde als unnötiges Risiko diskreditiert. "Hodgson hat sich verzockt", klagte die Sun.

Vielen Dank, Pflicht erfüllt: Roy Hodgson (r.) mit Defensivspieler Jordan Henderson. Mit seinen Offensivkräften kann der englische Nationalcoach dagegen nicht zufrieden sein. (Foto: Kai Pfaffenbach/Reuters)

Doch sich über Kritik aufzuregen, die auf Konjunktiven basiert, hat sich Hodgson längst abgewöhnt. "Hätte Wayne Rooney eine der Chancen genutzt? Wäre es mit den anderen Spielern anders gelaufen?", fragte der Trainer rhetorisch: "Ich hätte es doch sowieso niemandem Recht machen können - hätte ich Jamie Vardy und Daniel Sturridge nach ihren Treffern gegen Wales nicht spielen lassen, dann wäre mir das genauso vorgeworfen worden."

Hodgson hat vermutlich sogar Recht, wobei das mit dem Recht haben im Fußball so eine Sache ist. Die einfachste Wahrheit lautet nämlich: Recht hat, wer gewinnt. Und unter dieser Betrachtungsweise war Hodgson bei seiner Mannschaftsaufstellung zweimal im Unrecht.

Das Achtelfinale wird aus zweierlei Gründen aufschlussreich für den englischen Fußball: Weil Hodgson mit seiner Aufstellung ultimativ zeigen muss, welche Startelf er für seine wahrlich beste hält - und weil die dann aufgebotenen Spieler beweisen müssen, dass sie in entscheidenden Momenten mehr richtig als falsch machen. Vertröstungen auf die Zukunft wird man von Roy Hodgson danach keine mehr hören. Sei es, weil er gewonnen hat - oder weil er am Ende ist.

© SZ vom 22.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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