Gruppensieger Niederlande:Neue Perle in der Auster

Lesezeit: 3 min

Zweites Gruppenspiel, zum zweiten Mal Spieler des Matchs: Denzel Dumfries nach seinem zweiten Scorerpunkt gegen Österreich. (Foto: John Thys/dpa)

Die Niederländer sind der erste Gruppensieger dieser EM, auch dank des umtriebigen Vorbereiters und Torschützen Denzel Dumfries. Doch die Ergebnisse lenken ab von einigen Dissonanzen und einer anhaltenden Taktik-Diskussion.

Von Ulrich Hartmann, Amsterdam

Noch ist wenig bekannt über die Handlung des Johan-Cruyff-Musicals "14", das sie dieser Tage an der Johan-Cruyff-Arena in Amsterdam bewerben. Der legendäre Protagonist mit der titelgebenden Rückennummer ist der historische Superheld des niederländischen Fußballs. Vielleicht tritt der mit Cruyffschen Traditionen brechende Bondscoach Frank de Boer im Musical als Erzrivale auf. Vielleicht kommt der Shootingstar Denzel Dumfries in einer Traumsequenz vor. Allerdings wird es drei Monate vor der Uraufführung knapp, den aktuellen Erfolg von Oranje bei der Europameisterschaft noch mit in die Geschichte einzuarbeiten.

Dumfries, de Boer und die niederländische Mannschaft führen dieser Tage ihr eigenes Musical auf. Die Handlung geht jedes Mal zuverlässig so: Erst singen 23 Fußballer und 16 000 Fans in Gänsehaut-Lautstärke ihre schwermütige Nationalhymne, dann schießt der neue Publikumsliebling Dumfries das Siegtor, und hinterher muss sich der Trainer de Boer erkennbar zusammenreißen, um nicht versehentlich mal zu lächeln. Stattdessen schaut er cooler als John Wayne und sagt: "Wir werden sehen, wo das Ganze endet." Oranje träumt heimlich vom EM-Titel.

Was hätte der Offensivpurist Johan Cruyff zu den beiden ersten Spielen gesagt?

Die Nation wüsste nur zu gern, was der 2016 verstorbene Cruyff zu den Siegen gegen die Ukraine (3:2) und Österreich (2:0) gesagt hätte. Würde er Leidenschaft, Positionstreue und individuelle Qualitäten loben? Oder würde er sich aufregen über de Boers rebellisches 5-3-2-System, über die eklatanten Schwächen im Ballbesitz und über den Stürmer Memphis Depay, der aus drei Metern über das leere Tor schießt? "Wir werden weiter wachsen", verspricht de Boer selbstkritisch und vorsichtshalber für den Fall, dass Fans oder Medienvertreter in Fußball-Séancen Kontakt zu Cruyff haben und vom Meister im Jenseits zur Übermittlung kritischer Botschaften autorisiert wurden.

Gegen Österreich hat das taktisch sonst so altmodische Oranje einen Konterfußball modernster Prägung gespielt. Vor dem Anpfiff von Länderspielen legen sie in der Amsterdamer Arena außerdem nicht mehr wie jahrzehntelang Schlager auf, sondern gestatten einem hippen DJ, die Elastizität der Lautsprecher zu prüfen. Derlei taktische wie akustische Modernisierungen gefallen jungen Spielern wie Denzel Dumfries, der nur fünf Tage gebraucht hat, um mit zwei Treffern, einer Vorlage und zwei Tor-Einleitungen unverhofft zum neuen Star des niederländischen Fußballs zu werden.

Dumfries stiehlt den prominenten Kollegen die Schau.

Vor dem finalen Gruppenspiel am Montag gegen Nordmazedonien steht Oranje bereits als Gruppensieger fest. Das bedeutet Dumfries allerdings noch nichts. "Das Turnier ist noch lang, und unser Fokus liegt auf einer größeren Geschichte", sagte er Donnerstagnacht und entlarvte sich damit nach dem Trainer schon als zweiter Protagonist mit heimlichen Titelträumen. Der vermeintlich unscheinbare junge Mann von der unscheinbaren PSV Eindhoven wertet de Boers Not-Taktik zur Winner-Strategie auf, indem er unermüdlich die rechte Seitenlinie rauf und runter rennt, hinten brenzlige Situationen löst und vorne Tore einleitet oder auch selbst schießt.

Wenn's läuft, dann steigt einem garantiert jemand genau am Strafraumeck auf den Fuß. Das ungeschickte Zweikampfverhalten von David Alaba (links) verhilft Denzel Dumfries und den Niederländern zu einem Elfmeter und dem frühen Führungstor. (Foto: Koen van Weel/Getty)

Die Pointe dabei ist, dass es im Lande des klassischen 4-3-3-Systems seine offensive Verteidiger-Position so eigentlich gar nicht geben dürfte. Die Niederlande sind eine Nation vehementer Traditionen, was dem Bondscoach mit seinem ungewohnten 5-3-2 vor EM-Beginn erhebliche Kritik eingebracht hatte. Jetzt, da es läuft, jubeln ihm die Skeptiker zu. Die Euphorie kapriziert sich aber weniger als erwartet auf die bekannten Helden namens Memphis Depay, Georginio Wijnaldum, Frenkie de Jong oder Matthijs de Ligt. Der Aufsteiger am orangefarbenen Himmel heißt Dumfries, 25, wurde als Sohn südamerikanischer Eltern in Rotterdam geboren und spielt in Eindhoven unter dem deutschen Trainer Roger Schmidt sowie zuletzt zusammen mit deutschen Profis wie Mario Götze, Philipp Max oder Timo Baumgartl.

Der FC Bayern soll bereits die Witterung aufgenommen haben

Ein junger, schneller, leidenschaftlicher und noch dazu bei einem kleinen Verein spielender Außenverteidiger mit derartigen Offensivqualitäten ist wie eine Perle in einer Auster. Entsprechend gierig und in Schnäppchen-Laune werden sich die Sportchefs namhafter Klubs auf den jungen Mann stürzen. Auch Bayern Münchens Sportchef Hasan Salihamidzic soll die Witterung bereits aufgenommen haben, aber wer weiß, dass Dumfries' Berater der gerissene Italiener Mino Raiola ist, der kann sich Schnäppchen-Allüren sparen. Weil der Vertrag des Spielers in Eindhoven zudem noch bis 2023 gültig ist, dürfte es eh nicht ganz billig werden. Aber die Perle Dumfries, ganz ehrlich, scheint Gold wert zu sein.

Sowohl nach dem 3:2 gegen die Ukraine als auch nach dem 2:0 gegen Österreich wurde er als "Star of the Match" ausgezeichnet. "Schön, dass ich bei allen fünf Treffern dabei sein durfte", sagte Dumfries Donnerstagnacht in der Pressekonferenz und musste spontan lachen über diese derzeit fast albern anmutende Demut. "Die EM", sagte er aber auch noch, "wird langsam mein Kindheitstraum."

Vom Ausgang der EM für die Niederlande wird seine verheißungsvolle Zukunft nicht mehr abhängig sein. Trotzdem wird er die sich bietenden Chancen aufs Viertel- und Halbfinale oder auf gar noch mehr nutzen wollen. Eine fortgesetzte Oranje-Euphorie wäre die perfekte Werbung fürs Johan-Cruyff-Musical. Und als Europameister bekämen die Spieler gewiss schöne Nebenrollen in der Aufführung.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: