Eiskunstlauf:Revolution mit Verspätung

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Gewann trotz eines kleinen Fehlers: Paul Fentz versuchte den Toeloop, setzte aber schon nach drei Umdrehungen zur Landung an. (Foto: Karl-Josef Hildenbrand / dpa)

Paul Fentz wird zum dritten Mal deutscher Meister.

Von Barbara Klimke, Oberstdorf

Pünktlich zu den ersten Klängen des Paarlauf-Wettbewerbs trat Aljona Savchenko in die Eisarena. Ohne Schlittschuhe an den Füßen, dafür im schneeweißen Daunenmantel und mit Ehemann Liam Cross am Arm. Im September sind sie Eltern einer Tochter geworden. Aber die angebliche Unvereinbarkeit von Familie und furiosen Luftnummern wie dreifachen Wurf-Flips muss sich für die Olympiasiegerin erst noch beweisen, wie sie zu verstehen gab. Der Sportdirektor der Deutschen Eislauf-Union, Udo Dönsdorf, der ihr in der Halle entgegeneilte, Küsschen links, Küsschen rechts, begrüßte sie jedenfalls mit den Worten, dass sie nach allem, was er zuletzt gesehen habe, noch locker mithalten könne in der Weltspitze des Paarlaufs. Falls sie es wolle. Savchenko antwortete, leicht orakelhaft: Nun ja, man werde sehen.

Noch immer würden sie wohl liebend gern die Eismaschine anwerfen, um ihr die Rückkehr in den Wettkampfsport in Oberstdorf zu planieren, dort unterm Nebelhorn, wo sie mit Partner Bruno Massot vier Jahre lang trainiert hatte und wo sie auch heute wohnt. Der Verband DEU führt Savchenko/Massot weiterhin als aktive Athleten mit aktuellem Status Ergänzungskader, obwohl sie seit der Goldkür von Pyeongchang und dem anschließenden WM-Titel in Mailand 2018 keinen offiziellen Wettbewerb mehr bestritt. Und obwohl Massot, inzwischen ebenfalls Vater geworden, in der Schweiz als Trainer gebunden ist. Bislang aber hat sich Savchenko, 35, zur Zukunft des Duos nicht abschließend erklärt.

Und so fanden die deutschen Meisterschaften wieder einmal ohne die höchst dekorierten Eiskunstläufer statt, die der kleine Verband in seinen Reihen hat. Den Titel haben die einzigen Paare, die angetreten waren, unter sich ausgemacht: Minerva-Fabienne Hase und Nolan Seegert aus Berlin, die in diesem Winter bereits einen dritten Platz beim Grand Prix in Moskau eroberten, siegten vor ihren Trainingskollegen Annika Hocke/Robert Kunkel, einem international erfahrenen Juniorenpaar.

Dass Savchenko, die Zuschauerin im Daunenmantel, dennoch bis auf weiteres als "Maßstab für den Paarlauf" weltweit zu gelten hat, wie Sportdirektor Dönsdorf vermutet, ist als These kaum von der Hand zu weisen. Das liegt nicht nur an diesem unerreichten Wurf-Twist, bei dem sie im Olympiawinter in großer Höhe, querliegend wie ein Quirl in der Luft, um die eigene Achse wirbelte. Sie hatte schon zuvor mit Bruno Massot die künstlerischen Grenzen in ihrem Sport verschoben: sozusagen als Kufenspitze der Avantgarde.

In den Solodisziplinen hingegen setzte die Revolution erst mit Verspätung nacholympisch ein. Dafür umso gewaltiger, wie sich in der Entwicklung der Sprünge zeigt. Vierfachrotationen in der Luft bei möglichst vielen Elementen gehören bei den weltbesten männlichen Läufern inzwischen zum festen Repertoire. Und in Russland nehmen es unterdessen sogar einige 14- bis 15-jährige Mädchen in diesem Bereich mit den Männern auf. Wer sich hier zwei Jahre aus dem Eistraining verabschiedet hatte, dürfte 2020 kaum mehr mitfliegen können mit der Konkurrenz - es sei denn, er schraubt sich einen Propeller auf den Rücken wie Astrid Lindgrens Karlsson auf dem Dach. Von Olympiasieger Yuzuru Hanyu aus Japan kursieren Videos im Internet, die ihn im Dezember zeigen, wie er sich bereits an dem Vierfach-Axel versucht: Das ist der schwierigste aller Sprünge, weil er, genau genommen, viereinhalb Umdrehungen hat. Wenn er gelänge, könnte sich Hanyu die Urheberrechte sichern an einer Weltsensation.

Bei den deutschen Meisterschaften in Oberstdorf hat sich nur einer der Läufer überhaupt an einen Vierfachsprung gewagt: Paul Fentz, 27, der Titelverteidiger aus Berlin, versuchte den Toeloop im Kurzprogramm, setzte aber schon nach drei Umdrehungen vorzeitig zur Landung an. Der Anlauf war zu schnell: "Ein Fehler", wie er sagte, "mit dem ich mir das ganze Programm zerschossen habe". Zur Halbzeit war er nur Zweiter hinter seinem Berliner Trainingspartner Thomas Stoll. Am Freitagnachmittag, in der Kür, unternahm Fentz den nächsten Anlauf zu seinem Risikosprung, diesmal langsamer und mit dem erhofften Erfolg. Er setzte noch eine Kombination von Dreifach-Axel und Dreifach-Toeloop hintendran, landete vier weitere Dreifachsprünge vorschriftsmäßig auf einer Kufe und sicherte sich mit großem Vorsprung seinen dritten Meistertitel in Serie. Stoll fiel nach einigen Patzern zurück auf Rang drei, überholt von Jonathan Heß aus Mannheim, der Zweiter wurde. Nur einer aber, Meisterspringer Paul Fentz, ist damit nun für die Europameisterschaft in Graz Ende Januar qualifiziert. Ebenso wie Nicole Schott, 23, aus Essen, die mit einem glanzvollen, eleganten Programm und brillanten Sprüngen ihren Titel bei den Frauen verteidigte. Romy Oesterreich, die Trainerin von Fentz, seufzte nach zwei nervenaufreibenden Tagen erleichtert durch: "Da hat er endlich einmal angedeutet, was in ihm steckt." Im Gegensatz zur DEU hatte sie immer an den seit Jahren besten deutschen Eisartisten geglaubt. Vom Verband wurde Fentz nach der vergangenen Saison aus der höchsten Kaderstufe verbannt, unter anderem weil er bei der WM auf Platz 28 das Kür-Finale verpasst hatte. Ein verunglückter Vierfach-Toeloop damals, wieder einmal. "Wir wollten stattdessen jüngere Läufer in den Fokus stellen", sagte Sportdirektor Dönsdorf zur Erklärung; für Fentz aber bedeutete die Kaderrückstufung, dass er die Reisekosten für einige internationale Wettkämpfe selbst zu finanzieren hat. Sogar ein Karriereende, erzählte er nun erstmals, hatte er im Sommer schon erwogen.

Mit perfekten Vierfachsprüngen in beiden Programmteilen, auch das weiß er, gehört er indes "zum soliden Mittelfeld" international. Auch deshalb hat er sich zurückgekämpft. Mit einer Musik, die sein Motto geworden ist: "I'm still standing" von Elton John. "Ich finde," sagte Fentz trotzig, "das passt!"

© SZ vom 04.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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