Bei den Trommeln war Nicole Schott anfangs skeptisch. Ein asiatisch angehauchtes Programm hatte ihr vorgeschwebt, etwas Fernöstliches, Flirrendes, zu dem sie zur Abwechslung einmal wie eine Geisha übers Eis schweben konnte. Und nun? Dumpfe, dunkle Stakkato-Schläge hämmerten aus den Boxen und jagten rhythmisch, immer wilder werdend, auf das Finale zu.
Als Schott diese Kür-Musik zum ersten Mal mit ihrem Eiskunstlauf-Trainerteam hörte, war ein Blitzanruf bei der Schneiderin fällig: "Wir müssen die Pläne ändern!", erklärte sie am Telefon. Sie hatte zunächst Pastelltöne für ihr Kostüm ausgesucht: "Zartes Rosa mit Grün, eher kirschblütenartig. Das passte überhaupt nicht mehr." Jetzt ist ihr Kleid rot, gold und dominant, wie sie findet. Und sie selbst hat sich in die tanzende Dompteurin eines feuerspeienden chinesischen Drachens verwandelt.
Tatsächlich ist die Vorstellung Nicole Schotts zu einem Film-Medley aus "Kung Fu Panda 3" und "Crouching Tiger Hidden Dragon" ein kleines Meisterwerk geworden. Der Weltverband ISU hat es prompt in die Kandidatenliste der im März erstmals zu vergebenen ISU Skating Awards aufgenommen. Und zwar in der Kategorie "Unterhaltsamstes Programm". Nun ist so ein Publikumspreis, bei dem die eislaufinteressierte Öffentlichkeit online über ihre Präferenzen abstimmen darf, nicht gleichzusetzen mit sportlichen Meriten. Aber dass sie überhaupt zu den Nominierten dieses "Eislauf-Oscars" zählt, wie ihr Trainer Michael Huth die Auszeichnung scherzhaft nennt, zeigt für den Coach eben auch: Sie hat sich bei den Preisrichtern und bei der internationalen Konkurrenz einen neuen Grad der Aufmerksamkeit verschafft.
Als Schott vergangene Woche bei der deutschen Meisterschaft in Oberstdorf auch einen echten Titel entgegennehmen durfte, samt der harten Währung für Athleten, der Medaille, folgte das somit einer gewissen Zwangsläufigkeit. Auch sie selbst hat das nationale Championat vor der Europameisterschaft in zwei Wochen in Graz (20. bis 26. Januar) nur als einen Testlauf betrachtet. Das wollte sie keineswegs als Respektlosigkeit gegenüber den Rivalinnen verstanden wissen, wie sie versicherte. Aber erstens hatte sie sich schon durch die bisherigen Saisonergebnisse für die EM qualifiziert. Und außerdem war sie mit ihren 23 Jahren und dem nunmehr fünften Meistertitel die mit Abstand Erfahrenste im Bewerberfeld. Die zweitplatzierte Aya Hatakawa vom ESC Oberstdorf ist erst 15 Jahre alt und war Anfang Dezember auch bei den Juniorenmeisterschaften auf den zweiten Platz gelaufen.
Und doch hat Schott das Publikum in diesem Jahr mit einem Trommelwirbel in den Bann geschlagen wie selten zuvor in all den Jahren. Von Wettkampf zu Wettkampf vertiefte sich der Eindruck, dass die Dompteurin des Feuerdrachens sich ihrer künstlerischen und athletischen Stärken vollends bewusst geworden ist. "Naja, ich werde ja auch erwachsener", sagte sie lachend. Beim Training, so erzählte sie, entdecke inzwischen sie fast täglich Neues, das sie neben den Sprüngen an ihrem Sport fasziniert: Schrittkombinationen, Tempowechsel, höherer Körpereinsatz bei ungewohnten Bewegungsmustern. Eiskunstlauf, so wie ihn Schott versteht, muss ein bisschen mehr sein als Toeloop, Rittberger, Salchow, Flip und Axel samt der vorschriftsmäßigen Landung auf einer Schlittschuhkufe.
Gerade bei den Sprüngen hat sie zu einer bemerkenswerten Stabilität und Konstanz gefunden. Aber im Grunde ist Schott dabei, ihr persönliches Kontrastprogramm zum Hüpfwettbewerb der russischen Eislaufwunderkinder zu entwickeln. Denn sämtliche Grand-Prix-Wettbewerbe des bisherigen Winters, einschließlich des Finales, sind zugunsten eines phänomenalen Springerinnen-Trios aus Moskau ausgegangen: Alexandra Trusowa, 15, Anna Schtscherbakowa, 15, und Aljona Kostornaja, 16. Die zierliche Trusowa stellt mit ihren Vierfachsprüngen, bisher reine Männer-Elemente, einen Rekord nach dem nächsten auf; Schtscherbakowa bringt den tückischen Vierfach-Lutz ebenfalls zur Serienreife; Kostornaja hält mit dem seltenen Dreifach-Axel dagegen. Als Kollektiv sind die drei Moskauerinnen im Sommer von den Junioren zu den Senioren gewechselt und haben gnadenlos sogar Olympiasiegerin und Weltmeisterin Alina Sagitowa, auch erst 17, aus der Hierarchie gedrängt. Sagitowa beherrscht keine der Vierfach-Kapriolen - so wenig wie der Rest der internationalen Konkurrenz. Bis zum Ende der Saison hat sie sich nun eine Pause vom Wettkampfsport genommen.
Schott hegt große Anerkennung für die junge Avantgarde, aber sie weiß auch, dass sie aus biologischen Gründen mit den Teenagern nicht mithalten kann: So winzig wie vor der Pubertät ist sie nun einmal nicht mehr. Dass die Läuferinnen aus Russland auch bei der EM die Medaillen unter sich verteilen werden, bezweifelt kaum ein Experte. Michael Huth traut seiner Meisterläuferin jedoch mittlerweile zu, dass sie "für die Plätze vier bis zehn konkurrenzfähig sein kann". Je nach Gegnerschaft und nach Tagesform.
Zumindest sagt er, und das freut ihn wirklich, trainiere Schott "so bewusst wie ein russisches Mädchen". Er betreut sie, seit sie vor fünf Jahren aus Essen nach Oberstdorf wechselte, und er schätzt ihre Disziplin, ihre tägliche Motivation, ihre Athletik und ihre klaren Zielvorgaben. Und noch eine wichtige Anerkennung hat sie sich so erarbeitet. Aufgrund ihrer Weltranglistenposition darf sie nun erstmals bei der EM in der letzten Startgruppe aufs Eis - mit der Elite des Eiskunstlaufs. Das ist zwar auch kein Oscar. Aber eine Garantie, dass sie die Aufmerksamkeit erhält, die eine Drachendompteurin auf Kufen verdient.