Eishockey-WM:Hauptrolle im Passionsspiel

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Ein Kölner Junge, der beim 4:1 gegen Italien erstmals in der Kölner Arena spielte: Leon Draisaitl. (Foto: Jan Huebner/imago)

Zehn Stunden Flug, Jetlag auf dem Eis - und dennoch ist NHL-Profi Leon Draisaitl bei der Heim-WM gleich die erhoffte Verstärkung für das deutsche Team.

Von Ulrich Hartmann, Köln

Das Eishockey-Publikum ist entzückt, die Branche begeistert - die neuen Mitspieler haben Frühlingsgefühle. "Wie er die Pucks verteilt ...", schwärmt der deutsche Kapitän Christian Ehrhoff. "Er sieht Sachen, die andere nicht sehen", säuselt Abwehrspieler Moritz Müller. Der Präsident des Deutschen Eishockey-Bundes (DEB), Franz Reindl, spürt gar Schwingungen: "Er beflügelt jeden Mitspieler." Er, das ist Leon Draisaitl, 21 Jahre alt, die lange erhoffte und nun angekommene Verstärkung aus Übersee für die Heim-WM in Köln.

Die Ankunft kam gerade recht, Draisaitl injiziert dem Team neues Adrenalin, nachdem der Einzug ins Viertelfinale in Gefahr geraten war. Am Freitagabend hatte Deutschland gegen die mauen Dänen verloren, am Samstag landete der in Edmonton spielende Draisaitl in Frankfurt. "Trotz der Niederlage vom Vorabend haben nach seiner Ankunft alle gelächelt", berichtete der Bundestrainer Marco Sturm. Draisaitl verzaubert mit dem Charisma eines Ausnahmesportlers. Neun Stunden nach seinem Interkontinentalflug half er dem DEB-Team bereits beim 4:1-Sieg gegen Italien. Schon nach dreieinhalb Minuten legte er Ehrhoff das Führungstor auf.

Leon Draisaitl kann über gefrorenes Wasser laufen und Vorlagen in Tore verwandeln. Mit seinem biblisch anmutenden Playoffbart übernimmt er im deutschen Eishockey-Passionsspiel fortan die Hauptrolle des Erlösers und soll die Gemeinschaft ins gelobte Viertelfinale führen. Dazu bedarf es am Dienstagabend im finalen Gruppenspiel aber erst noch eines Sieges gegen Lettland. "Dieses Spiel ist wie ein Achtelfinale", sagt der Münchner Nationalspieler Dominik Kahun, weil die WM für die deutsche Mannschaft im Falle einer Niederlage zu Ende wäre. Das will Draisaitl schon deshalb verhindern, weil er dann ja nur zwei WM-Spiele vor heimischem Kölner Publikum bestritten hätte. Er will mindestens noch ein drittes, am Donnerstag, vielleicht gegen Kanada, seine Wahlheimat.

Beim entscheidenden Spiel gegen Lettland wird auch NHL-Torhüter Philipp Grubauer mitspielen

Draisaitl wird sich reinhauen dafür. Nach dem Sieg gegen Italien waren seine Kollegen elektrisiert - doch ausgerechnet der Motivator selbst wirkte, als könnte er jeden Moment zusammenklappen. Während der fünf Interviews kurz nach dem Spiel rieb er sich die glasigen Augen, seine Stimme klang matt, als er verriet, er würde sich am liebsten gleich für zwei Tage am Stück hinlegen. Mit seinem NHL-Klub Edmonton Oilers war er in der Nacht zum Donnerstag aus den Playoffs ausgeschieden, am Freitagabend um 17 Uhr betrat er in Calgary eine Boeing 787 und landete nach etwa zehnstündigem Flug am Samstagvormittag auf dem Frankfurter Flughafen, wo ihn Mutter Sandra abholte und zum Familienessen heim nach Köln fuhr. Am Abend waren sein Eltern auch in der Arena. Vater Peter war früher selbst Nationalspieler.

Eishockey hat in dieser Familie eine besondere Bedeutung, aber der Wunsch, in der ausverkauften 18 500-Zuschauer-Arena in Köln-Deutz ein WM-Spiel im deutschen Trikot zu absolvieren, war für Leon Draisaitl größer als das körperliche Bedürfnis, sich nach einem Zehn-Stunden-Flug und der Überwindung eines achtstündigen Zeitunterschieds erst mal auszuruhen. "Ich bin hier geboren und aufgewachsen, habe lange für die Jung-Haie gespielt, aber nie zuvor in der großen Halle - insofern war das etwas ganz Besonderes für mich." Er behauptete gar, das Spielen habe ihm geholfen, "die nächsten Tage werden dadurch einfacher für mich". Als vielfrequentierter Profi in der nordamerikanischen NHL ist Draisaitl ans Fliegen, an unterschiedliche Zeitzonen und an Jetlags auf dem Eis ganz gut gewöhnt, auch deshalb war er mit seiner und der Leistung der Mannschaft beim Sieg gegen Italien weitgehend zufrieden. "Wir werden die Zeit bis zum Dienstag nutzen, um uns optimal auf die Partie gegen Lettland vorzubereiten." Er werde sich noch steigern, sagt der Mann, der für Edmonton in dieser Saison 35 Tore erzielt und 58 vorbereitet hat.

Den rotblonden Bart, gediehen durchs Vorankommen in den Playoffs, hatte er bis Samstagabend auch deshalb noch nicht rasieren wollen, "weil die WM hier für mich gewissermaßen die dritte Runde ist". Nach der regulären Saison und den Playoffs mit Edmonton schließt sich die WM nahtlos an in einer Spielzeit, die angesichts seiner 21 Jahre natürlich die aufregendste in der noch jungen Karriere ist.

Und sie kann noch besser werden. Am Dienstag soll außer Draisaitl auch der Torwart Philipp Grubauer zum Einsatz kommen, der am Samstag ebenfalls schon im Kader war, aber zunähst lediglich als Ersatz für Danny Aus den Birken fungierte. Grubauer von den Washington Capitals wird gegen Lettland im Tor stehen - und wenn er die Mannschaft in ähnlicher Weise wie Leon Draisaitl beflügelt, dann ist die DEB-Auswahl dem Viertelfinale am Donnerstag ganz nah.

© SZ vom 15.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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