Eishockey-WM: Halbfinale:Lust auf Russland

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Nach Jahrzehnten der Bedeutungslosigkeit steht die deutsche Eishockey-Nationalmannschaft im WM-Halbfinale. Die Spieler strotzen vor Selbstbewusstsein.

Ulrich Hartmann

Der Held war verwundet. Blut tropfte auf das schöne gelbe Nationaltrikot von Christian Ehrhoff, aber der 27-jährige Verteidiger wird es mit diesen Wundmalen umso lieber als Reliquie eines großen Moments aufbewahren. "Für ein WM-Halbfinale lässt man sich doch gerne mal den Puck ans Kinn schießen", sagte Ehrhoff im Kabinengang und lächelte. Ehrhoff ist der beste Verteidiger einer hervorragend verteidigenden deutschen Mannschaft, die am Donnerstagabend mit dem 1:0-Viertelfinalsieg über die Schweiz deutsche Eishockey-Historie geschrieben und Deutschland nach Jahrzehnten der Bedeutungslosigkeit wieder ins Halbfinale einer Weltmeisterschaft gebracht hat. "Vor dem Spiel hatten wir in den Zeitungen gelesen, dass wir hier Geschichte schreiben können", sagte Ehrhoff: "Überall hat das gestanden, da habe ich Gänsehaut bekommen."

Deutscher Eishockey-Rausch: Torwart Dennis Endras nach dem 1:0 gegen die Schweiz im Viertelfinale. (Foto: dpa)

Auch Bundestrainer Uwe Krupp war noch spät in der Nacht vom siebten WM-Spiel seiner Mannschaft begeistert. Jedes Mal, wenn er in diesen Tagen anfängt, Lob zu verteilen, beginnt er mit dem Torwart Dennis Endras und nennt dann nach und nach fast jeden Spielernamen. Mit dem Einzug ins Halbfinale am Samstag gegen Russland (18 Uhr/live bei Sport1) sorgen diese Spieler für bislang nicht gekannte Aufmerksamkeit. Weil die bekanntesten deutschen Spieler immer noch die Pensionäre Erich Kühnhackl, Udo Kießling und Dieter Hegen sein dürften, freut sich Krupp über das mit jedem Sieg wachsende Interesse an seinen jungen Helden. "Wir sind jetzt in einem Prozess, in dem die Leute sich fragen: Wer ist eigentlich dieser Endras, wer ist dieser Gogulla, wer ist eigentlich dieser Ehrhoff?" Die Antworten darauf, sind nicht mehr so unbekannt wie noch vor zwei Wochen.

Ehrhoff, etwa, der gebürtige Moerser, der für Vancouver in der nordamerikanischen Profiliga NHL spielt, steht in jeder Partie durchschnittliche 23:22 Minuten auf dem Eis und damit deutlich länger als jeder andere deutsche Spieler. Nach ihm bekommen in Robert Dietrich (18:27 Minuten), Korbinian Holzer (18:13) und Alexander Sulzer (18:12) drei weitere junge Verteidiger die meiste Eiszeit. Die Verteidiger und ganz besonders Torwart Endras nennt Sportdirektor Franz Reindl "unser Bollwerk". Deutschland hat in sieben Spielen nur neun Gegentore bekommen. Nachdem Philip Gogulla gegen die Schweiz nach 30:49 Minuten das 1:0 erzielt hatte, verteidigte das deutsche Team abermals aufopferungsvoll und beinahe brillant und rettete den knappen Vorsprung über die Zeit. "Wir spielen einfach, wir spielen schlau, und wir haben einen starken Torhüter", sagte Sulzer. "Unser Spiel ist für die Gegner frustrierend", ergänzte Ehrhoff.

Assistent Höfner gesperrt

Nach dem Spiel wäre es auf dem Eis deswegen beinahe noch zu einer Massenschlägerei gekommen. "Da hat sich wohl Frust entladen", sagte der Düsseldorfer Daniel Kreutzer. "Es ist ein bisschen eskaliert", sagte der Berliner Constantin Braun und grinste. Aber sogar Wut und Enttäuschung der Schweizer interpretierten die Deutschen als Zugeständnis an ihre Abwehrarbeit. "Wir haben so gut gespielt und so solide gestanden, dass die Schweizer den Druck eben erhöhen mussten", sagte Sulzer, "dabei haben sie versucht, uns ein bisschen weh zu tun." Bei der Rauferei nach dem Spiel wurden insgesamt 92 Strafminuten gegen Spieler, aber auch gegen den deutschen Co-Trainer Ernst Höfner ausgesprochen. Höfner, 52, der mit dem Schweizer Verteidiger Timo Helbling gerauft hatte, wurde sogar gesperrt. Bundestrainer Krupp muss auf seinen Assistenten im Halbfinale und im Finale bzw. im Spiel um Platz drei verzichten, wie der Weltverband IIHF am Freitagabend bekannt gab.

"Wir haben heute Geschichte geschrieben", sagte Kreutzer im fahlen Neonlicht des Kabinengangs mit müden Augen, aber Ehrfurcht in der Stimme. Viele Spieler beteuerten, sie könnten diese historische Dimension noch gar nicht begreifen. Der junge Kölner Marcel Müller verlor vor lauter Begeisterung über den Halbfinal-Sieg jegliche Zurückhaltung und behauptete: "Jetzt muss unser Ziel das Finale sein, jetzt müssen wir die Russen schlagen, in der Zwischenrunde haben wir 2:3 verloren, mit denen haben wir noch eine Rechnung offen."

Bundestrainer Krupp wurde daraufhin gefragt, ob er jetzt denn nicht die Euphorie bremsen, die Begeisterung zumindest ein bisschen eindämmen müsse; nicht dass in Deutschland noch jemand glaubt, diese Mannschaft könnte nun auch die scheinbar übermächtigen Russen schlagen. Doch Krupp schüttelte nur den Kopf. Er will nicht bremsen. "Alles ist möglich", sagen auch seine Spieler und ignorieren im anschwellenden Erfolgsrausch die nominelle Überlegenheit der russischen Mannschaft. Die überragenden Russen beherrschen nahezu alle statistischen Rubriken. Sie haben die höchste Toreffizienz, das fünftbeste Überzahlspiel und gleich acht Spieler in der Topscorerliste der besten Torschützen und Vorlagengeber. Unter diesen effektivsten 30 Spielern des Turniers steht kein einziger Deutscher.

Doch das ist den Gastgebern in der momentanen Situation ziemlich egal. Sie haben in den vergangenen Tagen gelernt, dass im Rausch der Gefühle vieles möglich ist. "Klar, Russland ist Favorit", sagt Kapitän Marcel Goc und grinst: "Aber wir wollen doch mal sehen, ob wir die nicht auch ärgern können."

Es klang nicht wie ein Scherz, sondern wie eine Drohung.

© SZ vom 22.05.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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