Eishockey:Oh Kanada!

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SZ-Grafik (Foto: SZ-Grafik)

Erstmals seit 46 Jahren nimmt kein einziger Klub aus dem Eishockey-Mutterland an den nordamerikanischen NHL-Playoffs teil.

Von Johannes Schnitzler

Die Karriere des Eishockeyspielers Korbinian Holzer, 28, verlief nicht linear. 2010, nach dem vierten Platz bei der Heim-WM, wechselte der Nationalspieler aus der deutschen Bundesliga in die nordamerikanische Profiliga NHL, ins gelobte Land seines Sports. Für die Toronto Maple Leafs machte Holzer in fünf Jahren allerdings nur 58 Spiele, meistens kam er im Farmteam zum Einsatz. Vor den Playoffs 2015 gab Toronto Holzer nach Anaheim ab, wo er die Endrunde von der Bank aus verfolgte. An diesem Freitag postete Holzer auf seiner Facebook-Seite ein Foto, aufgenommen an der Pazifikküste nahe Newport Beach, dazu schrieb er: "Heute mal den freien Tag für einen kleinen Strandspaziergang genutzt." Was wieder einmal nach vorzeitigem Badeurlaub klang, ist für Holzer Teil seiner Regeneration. Der Verteidiger, der nach 25 Saisonspielen zuletzt krankheitsbedingt fehlte, wollte am Strand einfach die "Akkus aufladen für den Saisonendspurt". Seine Anaheim Ducks haben sich längst für die Playoffs qualifiziert. Mit einem 8:3 gegen die Calgary Flames übernahmen die Kalifornier am Mittwoch vorübergehend die Tabellenführung in der Pacific Division, Holzer hatte beinahe 18 Minuten Eiszeit.

Montreal ist immer noch Rekordmeister - der letzte Titel ist aber 23 Jahre her

Holzer hatte Glück im Unglück. Denn Calgary blieb ebenso auf der Strecke wie Holzers früheres Team Toronto - und alle anderen fünf kanadischen NHL-Klubs. Zwei Wochen vor Beginn der Endrunde steht fest, dass die Playoffs ohne das Eishockey-Mutterland stattfinden - zum ersten Mal seit 46 Jahren, zum zweiten Mal erst überhaupt. Im Achtelfinale vom 13. April an stehen 16 US-Teams.

Das Land des aktuellen Weltmeisters und Olympiasiegers verharrt seitdem wie schockgefroren. "Zum Schämen, großer weißer Norden", kommentierte die Fachzeitschrift The Hockey News die Schreckensbilanz. "Der kollektive Sarg der Nation ist zugenagelt." Der Toronto Star titelte in Anspielung auf die Nationalhymne verzweifelt: "No Canada!"

Calgarys Verteidiger Mark Giordano, 32, sagte: "Eishockey ist ein solch wichtiger Bestandteil unserer Kultur. Seit ich ein kleiner Junge war, habe ich jedes Jahr der ersten Playoff-Runde entgegengefiebert. Es ist einfach nur enttäuschend." Das Unheil kündigte sich wie eine Naturkatastrophe an. Seit 2011 hat keine kanadische Mannschaft mehr das Finale um den Stanley Cup erreicht. Die letzte, die den Titel holte, war Rekordmeister Montreal Canadiens. Vor 23 Jahren. In der vergangenen Saison qualifizierten sich zwar fünf kanadische Teams für die Playoffs. Doch im Viertelfinale war spätestens Schluss.

Der sportliche Misserfolg schlägt nicht nur Wunden in die Seelen der 35 Millionen Kanadier, von denen 720 000 aktiv Eishockey spielen, mehr als in jedem anderen Land (zum Vergleich: Deutschland hat 30 000 Aktive). Er stellt allmählich auch ein wirtschaftliches Problem für die NHL dar. Das Finale 2015 zwischen Chicago und Tampa Bay sahen in Kanada 20 Prozent weniger Zuschauer als im Jahr davor, eine verheerende Quote. Bei Rogers, einem Telekommunikationsunternehmen mit Sitz in Toronto, das über einen Zeitraum von zwölf Jahren 3,5 Milliarden Euro allein für die kanadischen Übertragungsrechte hinblättert, rauft man sich bereits die Haare. Auch die NHL sieht die Entwicklung mit Unbehagen. Die NBC zahlt für die US-Rechte über zehn Jahre 1,8 Milliarden Euro. Aber das Kerngeschäft macht die Liga auf dem kanadischen Markt. "Ist es ideal, wenn wir dort nicht vertreten sind?", fragt der stellvertretende Geschäftsführer Bill Daly. Auch das Vorrecht der schwächeren Klubs, bei der jährlichen Talentbörse Draft als Erste zuzugreifen, vermag das Süd-Nord-Gefälle nicht auszugleichen. Zu schwach ist der kanadische gegenüber dem US-Dollar: Die besten Spieler wandern irgendwann über die Grenze in den Süden ab.

Bundestrainer Marco Sturm, mit 1006 Einsätzen deutscher NHL-Rekordspieler, verfolgt die Entwicklung mit gemischten Gefühlen. Einerseits kann er nun bei der WM auf Leon Draisaitl zurückgreifen. Der Kölner wurde 2014 als Dritter im Draft gewählt, so früh wie nie ein Deutscher zuvor; trotz einer sehr guten Saison des 20-Jährigen scheiterten seine Edmonton Oilers aber einmal mehr. Andererseits weiß Sturm, wie groß der Druck in der Heimat auf die kanadischen Profis ist: "Für sie ist es sehr, sehr bitter. Ein ganzes Land lebt nur für Eishockey, alle sind sehr, sehr stolz darauf, dass sie die Besten sind." Oder viel mehr: waren. Unter den 30 NHL-Klubs liegen die sieben kanadischen auf den letzten Plätzen. Die Hoffnungen der Nation ruhen nun auf ihren Legionären. Auf Sidney Crosby etwa, der Team Canada 2010, im Finale gegen die USA, zum Olympiasieg schoss. Crosby steht mit den Pittsburgh Penguins kurz vor den Playoffs.

© SZ vom 02.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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