Sein erster Weltmeistertitel im Darts kostete Luke Humphries so viel Kraft, dass er sich nach dem letzten Wurf nicht mehr länger auf den Beinen halten konnte. Er kniete nun vor der Dartscheibe nieder, die sein Leben immerzu bestimmt hat. Und sofort kamen ihm die Tränen.
Sein 7:4-Erfolg über den 16 Jahre alten Luke Littler, den jüngsten WM-Finalteilnehmer im Darts überhaupt, erinnerte viele Beobachter an die Glanzleistung des Weltmeisters von 2018, Rob Cross, der damals den Altmeister Phil Taylor in dessen Abschiedsspiel besiegt hatte. Seinerzeit schien alles darauf hinauszulaufen, dass sich Taylor ein letztes Mal zum Champion krönen würde - so wie sich die meisten Fans im Londoner "Ally Pally" nun wünschten, dass der junge Littler seinen märchenhaften Aufstieg bei seiner ersten WM mit dem Titel abschließt.
Darts-WM:"Mir ist es wichtig, dass das Spiel zu einem Spektakel wird"
Seit fast 30 Jahren ist der Caller Russ Bray die Stimme des Darts-Sports. Nun leitet er sein letztes WM-Finale. Ein Gespräch über blitzschnelles Kopfrechnen, patriotische Zuschauer - und den abgeklärtesten Pfeilewerfer der Geschichte.
Und so hörte sich das Sieger-Interview von Humphries, der neuen Nummer eins der Darts-Welt, bisweilen an, als fühle er sich verpflichtet, mehr über seinen Gegner zu sprechen als über sich selbst. Allerdings sagte Humphries gleich zu Beginn seiner Rede, dass er ohnehin "keine Worte" dafür habe, wie "großartig" der Triumph sei. Für den Titel erhält der Engländer, der in der dritten Runde fast gegen den Deutschen Ricardo Pietreczko verloren hätte, eine halbe Million Pfund.
Schon vor dem Match stand fest, dass es beim Duell der Final-Debütanten Littler und Humphries einen neuen Weltmeister im Darts geben würde. Und dieser ließ sich bis zum Schluss auch kaum prognostizieren; zu ebenbürtig und auch schwankend agierten beide Profis. Keiner konnte sich absetzen und das von zahlreichen bemerkenswerten Wurfkombinationen geprägte Match nachhaltig kontrollieren.
Littler und Humphries werfen die Darts ihres Lebens, sagt der Ex-Profi Wayne Mardle
Wegen der erstaunlichen Vorleistungen der beiden im Turnier war davon auszugehen gewesen, dass auch ihr Duell im Finale sehr sehenswert ausfallen würde. Im Halbfinale kamen Littler und Humphries pro Pfeil-Aufnahme auf einen Durchschnittswert von jeweils mehr als 105 Punkten, ihre Trefferquoten auf die Doppelfelder lagen im gesamten Turnier bei knapp unter 50 Prozent. Die Genauigkeit und die Konstanz führt der frühere Darts-Profi und Sky-Kommentator Wayne Mardle auf die gleichbleibenden Abläufe der Spieler zurück. Mardle sagte der SZ, dass es an "Rhythmus, Geschwindigkeit und Routine" der beiden liege, dass sie diese technische Sportart derzeit so einfach aussehen ließen. Ihre Fähigkeiten könnten sogar mit der Stilistik des Ausnahmegolfspielers Tiger Woods mithalten. Littler und Humphries würden derzeit die Darts ihres Lebens werfen, kündigte Mardle an - und das taten sie dann auch im Finale.
Es entwickelte sich ein mitreißendes Duell, bei dem sich Littler und Humphries in den ersten vier Sätzen jeweils den Anwurf abnahmen. Stets ging Humphries in Führung, mit 1:0 und 2:1, und musste dann den Konter des Teenagers hinnehmen. Dem gelang es bei zwei Leg-Gewinnen - drei werden für einen Satz benötigt -, die beachtlichen Restwerte "142" und "120" jeweils in einem Rutsch zu erledigen. Die Fans sprangen auf, sofern sie nicht ohnehin schon standen, Littler grinste - und Humphries wirkte zwar beeindruckt, ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen.
Beide Spieler behielten ihren schnellen Rhythmus bei. Trotz der ähnlichen Geschwindigkeit unterscheiden sich ihre Stile in Nuancen, bedingt durch ihre unterschiedlichen Körpergrößen. Humphries, 1,85 Meter groß, zielt gerade auf die Scheibe. Sein circa zehn Zentimeter kleinerer Kontrahent muss leicht nach oben werfen. Und noch etwas unterscheidet sie: Obwohl Littler erstmals bei einem Major-Turnier mitspielt, scheint ihm der Trubel im Ally Pally nichts auszumachen. Es wirkt vielmehr, als mache er sich die Stimmung zunutze, indem er sich vom Lärm der Zuschauer inspirieren lässt. Littler interagiert mit ihnen wie mit seinen Darts - auf natürliche Art. Bei Littler sei "nichts erzwungen, nichts Show", findet Mardle. Er sei einfach ein "sehr cooler 16-Jähriger".
Ein so hübsches Kompliment hat Humphries bisher nicht erhalten. Ihm wird gerne vorgehalten, auf der Bühne bisweilen zu sehr mit dem Match beschäftigt zu sein. Den Vorwurf konterte er vor der WM, indem er bekannte, es sei kein Problem für ihn, als ein "bisschen langweilig" zu gelten, wenn er so Turniere gewinne. Dass sich das Darts-Publikum mehr mit Littler identifiziert, bekam er während des gesamten Spiels zu hören: Er wurde durchweg weniger euphorisch unterstützt und seine erfolgreichen Würfe wurden weniger bejubelt.
Der Einfluss der Fans machte sich mit zunehmender Spieldauer bemerkbar. Im fünften Satz beschleunigte Littler mit der Höchstpunktzahl "180" die Begegnung, und ging erstmals im Spiel in Führung. Den Vorsprung steigerte er anschließend zu einer Führung von 4:2 nach Sätzen - auch weil Humphries einmal sehr unglücklich mit dem dritten Pfeil die vorigen zwei aus dem Feld der Dreifach-20 schoss. In dieser Phase wurde Humphries unruhig und hatte zu kämpfen.
Humphries nahm mit drei Pfeilen die "121" aus dem Spiel
Doch der 28-Jährige spielte seine Erfahrung aus. Er blieb dran, profitierte davon, dass Littler eine aus seiner Sicht spielentscheidende Chance auf der Doppel-2 zum möglichen 5:2 ausließ - und schlug dann selbst zum 4:4 zurück. Dafür nahm Humphries mit drei Pfeilen die "121" aus dem Spiel - und zuvor sogar die "170". In diesen zwei Durchgängen spielte der Favorit auf Weltmeisterniveau.
Seit sechs Jahren ist Humphries mittlerweile Profi. Anders als dem weltweit gefeierten Littler, dem gerade alles zuzufliegen scheint, musste er einige Rückschläge verkraften. Sein erstes Major-Turnier hat er erst im Oktober 2023 gewonnen. Die Zeitung Guardian fasste pfeilgenau zusammen, dass Humphries zu jenen Spielern gehöre, deren "herausragende Leistungen in einer Welt voller großer Persönlichkeiten und aufdringlicher Egos fast unter dem Radar" verschwinde.
Passenderweise schien ihn das Publikum in London am Mittwochabend erst dann so richtig zu entdecken, als Humphries den ausgeglichenen neunten Satz für sich entschied. Mit der damit verbundenen Euphorie baute Humphries danach bei Anwurf Littlers die Führung auf 6:4 aus. Nur ein Satz fehlte ihm noch zum Titel. Und diesen holte sich der Mann, der auf den großen Triumph so lange hatte warten müssen, nun besser sofort als zu spät. Luke Humphries' zweiter Match-Dart bohrte sich tief hinein in die Doppel-8 im Herzen des Ally Pally.