Leichtathletik-WM in Budapest:Doppelt jubelt es sich besser

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Katie Moon und Nina Kennedy teilen sich Stabhochsprung-Gold. (Foto: Li Ming/IMAGO/Xinhua)

Weltmeisterinnen, die eine Runde zu früh zum Siegerjubel ansetzen, Spaßsprinter in Ausbildung und eine Medaillengewinnerin vom VfB Stuttgart: Sechs Kurzgeschichten aus Budapest.

Von Johannes Knuth und Ewald Walker, Budapest

Der erste Eindruck setzt den Ton, und dafür hatten sie in Budapest eine besonders unterhaltsame Idee ersonnen. Während sich Werfer, Stoßer und Springer im Stadion vor ihren Wettbewerben aufstellten und dem Publikum vorgestellt wurden, musizierte neben ihnen eine Combo aus Schlagzeug und Geigern. Allerdings meinte es vor allem der Kollege mit der Gitarre ein wenig zu gut; am ersten Finalabend wuchtete er sein Musiziergerät derart durch die Gegend, dass er Kugelstoßer Joe Kovacs beinahe einen Stoß verpasste (oder wollte er Kovacs die akkurate Drehstoßtechnik vorführen?). Zufall oder nicht, während der letzten WM-Tage schickten die Organisatoren ein etwas, nun ja, statischeres Ensemble ins Rennen: mit einem Keyboarder und einem zahmeren Gitarristen. In den sportlichen Wettbewerben war dann so oder so genug Musik drin.

Doppelte Freude (I)

Maria Perez gewinnt beide Geherinnen-Wettbewerbe (Foto: Attila Kisbenedeka/AFP)

Wenn eine Stadt es schaffen soll, in echt noch pittoresker auszusehen als es der Werbeprospekt verspricht, dann ist Budapest ein heißer Kandidat. Die Wettbewerbe der Geher und Marathonläufer führten während der Weltmeisterschaften an den schönsten Bauwerken vorbei, von Heldenplatz bis zur Donau, wobei die Geher etwas kürzer gehalten wurden auf einer Zwei-Kilometer-Schleife. Da konnte man sich schon mal verzählen, wie die Spanierin Maria Perez, die die 35 Kilometer in Budapest mit großem Vorsprung anführte und sich ganz sicher war, dass sie alle Runden absolviert hatte. Sie hatte zuvor ja gehört, wie ein Offizieller die Glocke geläutet hatte, als sie die Ziellinie zum vorgeblich letzten Mal passiert hatte.

Das Signal, stellte sich später heraus, galt bloß dem Geher aus dem männlichen Feld, das die Organisatoren gleichzeitig mit den Frauen ins Rennen geschickt hatten. Perez schaute etwas verdattert, als man ihr bedeutete, dass sie noch eine Runde vor sich hatte; legte die spanische Flagge aus der Hand, die sie schon für den Zieljubel in der Hand hatte. Zwei Kilometer später durfte sie dann beflaggt ins Ziel marschieren, und der doppelte Jubel war ja auch angemessen: Perez gewann in Budapest das Double aus 20 und 35 Kilometern, wie Landsmann Alvaro Martin.

Doppelte Freude (II)

Nina Kennedy und Katie Moon gewinnen beide Gold. (Foto: Steph Chambers/Getty Images)

Dass sich die Schnellsten auf der Laufbahn ab und zu den Sieg und die Goldmedaille teilen, weil sie zufällig bis auf die Tausendstelsekunde zeitgleich im Ziel eintreffen, kennt man von der Leichtathletik. Recht neu ist der Trend, dass in den technischen Disziplinen ebenfalls zwei Hauptpreise verteilt werden, und zwar mit voller Absicht. Der Italiener Gianmarco Tamberi und Mutaz Barshim aus Katar brachten das Modell vor zwei Jahren bei Olympia in Tokio zur Serienreife als sie, ausgestattet mit identischer Höhe und Fehlversuchen, vor dem anstehenden Stechen fragten: "Können wir auch zwei Goldmedaillen haben?" Sie konnten - und dienten der Amerikanerin Katie Moon und der Australierin Nina Kennedy nun als Vorbild, die, ebenfalls gleichauf im Wettbewerb, ihren gemeinsamen Titeltraum realisierten.

Wie bei Barshim und Tamberi ernteten sie viel Lob, den warmen Applaus des Publikums dazu - und derbe Kritik in den sozialen Medien. Dort studierten die Nutzer am freundlichen Pakt, grob gesagt, den Untergang der Leistungsgesellschaft, weil sich die Athletinnen nicht bis auf den letzten Blutstropfen duelliert hatten. Moon, die 2021 in Tokio und 2022 in Eugene je Olympia- und WM-Gold gewonnen hatte, leistete am Tag darauf Widerrede: Stabhochsprung sei kein Ausdauer-Event, jeder Sprung eine kleine Zirkusnummer in fast fünf bzw. sechs Meter Höhe - da werde es nach vier Stunden Wettkampf bei 30 Grad irgendwann gefährlich. Das Resümee von Katie Moon: "Um ein Champion zu sein, musst man nicht immer auf Teufel komm raus gewinnen."

Bolts Erbe

Drei WM-Titel: Noah Lyles (Foto: Morgan Treacy/Inpho Photography/Imago)

Die Überschrift, die sich über die WM von Noah Lyles spannen ließ, ging in etwa so: Eine Kollision überstanden, drei Goldmedaillen gewonnen. Der Amerikaner war einer von mehreren Insassen gewesen, als zwei Golfwagen, die die Athleten in Budapest vom etwas weiter entfernten Aufwärmplatz abholten, vor dem Stadion kollidierten. Videoaufnahmen zeigten, wie ein Helfer aus dem Auto geschleudert wurde, der Jamaikaner Andrew Hudson bekam offenbar einen Splitter ins Auge, Lyles steckte nur der Schrecken in den Knochen. Es hielt ihn nicht davon ab, Gold über 100 Meter, 200 Meter und mit der Sprintstaffel zu gewinnen - es war der einzige Hattrick in Budapest, der erste im WM-Sprint zudem, seit das einem gewissen Usain Bolt 2015 gelungen war.

Lyles, der Erfolgreichste aus einem mal wieder unangefochten erfolgreichen amerikanischen Team mit 29 (!) Medaillen, wurde in Budapest oft als Nachfolger des Jamaikaners ausgerufen. Seit der Spaßsprinter abgetreten ist, haben sie zwar großartige Athleten, aber nicht mehr die globale Aufmerksamkeit. Lyles dachte während der Titelkämpfe dann auch sehr laut darüber nach, wie er ähnliches vollbringen könnte; sprach darüber, mit welchen Prominenten er sich demnächst zeigen könnte, um seinen Ruf in Amerika zu mehren, wo sie sich bestenfalls bei Olympia für die Leichtathletikgroßmacht USA interessieren, kritisierte dann, dass Legenden wie Bolt nicht in Budapest aufgetaucht waren, deren Prominenz auf die neue Generation hätte abfärben können.

Alles schön und gut. Aber bei all dem Trubel um Bolt fragte man sich irgendwann: Wer ist eigentlich Noah Lyles?

Halbe Bronzemedaille

Alina Rotaru-Kottmann holt Bronze im Weitsprung. (Foto: Michael Steele/Getty Images)

Keine deutsche Medaille? Üble Nachrede! Man musste in Budapest nur ein bisschen genauer die Lebensläufe durchblättern, schon stieß man auf die Weitspringerin Alina Rotaru-Kottmann. Die 30-Jährige gewann mit 6,88 Metern im letzten Versuch zwar Bronze für Rumänien (die erste Medaille seit 20 Jahren für das Land), hat aber zur Hälfte schwäbische Wurzeln und trägt seit 2015 sogar das Vereinstrikot des VfB Stuttgart.

Ihr Trainer Micky Corucle war wie sie bei Steaua Bukarest groß geworden und lebt seit vier Jahrzehnten in Kirchheim/Teck. Als Trainer des Sprinters Tobias Unger, Olympia-Finalist und Dritter bei der Hallen-WM 2004 in Budapest über 200 Meter, machte er sich in Deutschland einen Namen. Rotaru-Kottmann lebt seit neun Jahren in Stuttgart, ihr Mann Max Kottmann (Weitsprung-Bestleistung 7,79 Meter) sitzt als Verantwortlicher für den Leistungssport im Präsidium des Württembergischen Leichtathletik-Verbands. Über einen Wechsel im Pass hat man in Stuttgart aber nie nachgedacht. "Ich habe im rumänischen Verband eine viel bessere Leistungsförderung als hier", sagte Rotaru-Kottmann.

Endspurt

Femke Bol gewinnt den Sprint zum Ende der 4x400-Meter-Staffel. (Foto: World Athletics Championships Budapest 2023/ANP/Imago)

Auch der letzte Eindruck zählt, und in dieser Hinsicht machte die Niederländerin Femke Bol in Budapest (fast) alles richtig. Sie war auf unrühmliche Weise in die Titelkämpfe aufgebrochen, war in der Mixed-Staffel, Gold und Weltrekord vor Augen, als Schlussläuferin gestürzt, hatte den Staffelstab verloren und war so in die Disqualifikation gestolpert. Selbst Hochbegabungen geht mal die Puste aus, erklärte Bol, versprach "Revanche", gewann in 51,70 Sekunden dann Gold über 400 Meter Hürden - und bog am Schlusstag in der 4x400-Meter-Staffel der Frauen, dem letzten Rennen in Budapest, als Dritte auf die letzten Meter, hinter den Schlussläuferinnen aus Jamaika und Großbritannien. "Schluss mit der Geduld", habe sie gedacht, sagte Bol später, setzte zu einem Spurt an, den man in der Regel nur mobilisiert, wenn sich die zweijährige Tochter mit dem Bobbycar die abschüssige Straße hinunterstürzt. So oder so: Die Revanche war geglückt.

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