Boxen:Vier friedliche Fäuste

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Seite an Seite sind die Brüder Harutyunyan zu Nationalkämpfern gereift. Nur Artem, 27, boxt bei der WM um Medaillen - Robert, 28, ist sein Trainingspartner.

Von Thomas Hahn, Hamburg

Seine Erinnerungen möchte der Boxer Artem Harutyunyan aus Hamburg nicht sehr gerne "Erinnerungen" nennen. Der Begriff ist ihm irgendwie zu ungenau. "Das sind Gefühle", sagt er und dreht in Gedanken die Zeit ein Jahr zurück.

Rio de Janeiro. Eröffnungsfeier der Olympischen Sommerspiele. Einmarsch der Athleten. Artem Harutyunyan lächelt. Inmitten der deutschen Mannschaft befand er sich erst hinter den Hockeyspielerinnen, das war gut, weil er über diese hinweg schauen konnte mit seinen 1,72 Metern Körpergröße. Aber dann kamen die Handballer. Lauter Zwei-Meter-Kerle, da war die Sicht versperrt. Gesehen hat Artem Harutyunyan dann trotzdem etwas, weil der 100-Kilo-Judoka Karl-Richard Frey ihn, den Halbweltergewichtler, auf die Schultern nahm. Dort oben hat ihn dann auch sein Bruder entdeckt, Robert, ebenfalls Boxer: Er saß vor dem Fernseher, weil er sich wegen unglücklicher Umstände nicht qualifiziert hatte. Und beide, Artem, 27, und Robert, 28, vergessen das nicht mehr, wie sich das damals anfühlte, als die Spiele ihre Kraft entfalteten.

An diesem Freitag beginnt die WM des olympischen Boxverbandes Aiba in Hamburg. Artem Harutyunyan ist dabei, Robert schaut zu, wie damals bei Olympia - die Situation wirkt fast wie eine Metapher für den Umstand, dass auch ein großer sportlicher Erfolg nicht die ganz große Veränderung bringt. Artem Harutyunyan hat in Rio Bronze gewonnen in der Klasse bis 64 Kilogramm. Das war der erste zählbare olympische Erfolg des Deutschen Box-Sportverbandes seit zwölf Jahren und damit ein bedeutsames Lebenszeichen für den DBV, der im Leistungssportregime des Deutschen Olympischen Sportbundes als Problemfall galt. Der Erfolg ersparte dem DBV Kürzungen in der Förderung, nachdem alle anderen deutschen Boxer in der ersten Runde ausgeschieden waren. Artem Harutyunyan war auf einmal wer.

Und nun? Ein Jahr später?

Die Brüder Harutyunyan sitzen nebeneinander in einer Pizzeria im Hamburger Schanzenviertel, und es ist, als wären diese beiden jungen, höflichen Männer in Wirklichkeit eine Person. Artem erzählt, Robert erzählt, und beide Erzählungen verschmelzen zu einem gemeinsamen Monolog, in dem es um den Wert der Brüderlichkeit geht, um Demut, Selbstbewusstsein, Moral und um die Lehre ihrer Eltern. "Sie haben uns immer die gleiche Kleidung gegeben", sagt Artem. "Damit keiner auf den anderen neidisch wird", sagt Robert. Aus dieser Erziehung stammt dann wohl auch die Einsicht, dass selbst eine Olympiamedaille kein Grund zum Abheben ist. Vater Aram Harutyunyan war einst Karatelehrer in der UdSSR, er ist der Taekwondo-Trainer seiner Söhne. Er hat sie zum Sport gebracht. Er hat ihnen die Einsicht des Kämpfers vererbt: Hochmut macht schwach. "Ich versuche immer so natürlich, wie möglich aufzutreten", sagt Artem deshalb. "Wenn ich noch ergänzen darf", sagt Robert, "Artem ist sehr bodenständig. Er vergisst nicht, wer an seiner Seite war."

Dass sich gar nichts verändert hätte seit der Medaille, stimmt natürlich nicht. "Eine Olympiamedaille bringt viel Verantwortung mit sich", sagt Artem. Er war vorher schon erfolgreich. EM-Dritter 2013, Weltmeister des Aiba-Ablegers APB, der mit einem mittlerweile eingestellten Kampfprogramm den etablierten Profibox-Verbänden Konkurrenz machen wollte. Die Olympiamedaille hat ihn zu einem prominenten Mann gemacht. Menschen erkennen ihn, Medien fragen nach ihm, er ist Botschafter der Hamburger WM. Und Artem Harutyunyan ist dabei nicht nur ein Werbeträger für seinen Sport. Sondern auch einer für Toleranz und Gemeinsinn.

Er und Robert sind Flüchtlingskinder aus Armenien. Als dort Krieg herrschte, verließen die Eltern mit ihnen das Land. Sechs Jahre lang wohnten sie in einer Flüchtlingsunterkunft in Rahlstedt, in entbehrungsreichen Verhältnissen, in denen Karriere-Chancen kaum zu sehen sind. Heute stehen Artem und Robert da wie Helden der Integrationsgesellschaft. Wie Brückenbauer zwischen zwei Kulturen, weil sie nicht nur akzentfrei Deutsch sprechen, sondern auch Armenisch in Wort und Schrift beherrschen. "Wir sind durch den Sport integriert worden", sagt Artem. "Wir sind stolz darauf, aus Armenien zu kommen, aber froh, in Deutschland groß geworden zu sein", sagt Robert.

Und dann ist da ja noch ihre Gebrüder-Geschichte, die nun mehr denn je vor den Blicken der Öffentlichkeit bestehen muss. Aus den Harutyunyan Brothers ist längst eine Marke geworden: HB Boxing. Sie haben ihr eigenes Logo - das H beschreibt darin die Silhouette zweier friedlicher Fäuste. Aber die Marke funktioniert nur, wenn auch ihre Bruderliebe funktioniert. Vor allem Robert muss dafür Geduld bewahren. In der Gewichtsklasse bis zu 60 Kilo hat er auch seine Träume. Im Gleichschritt ist er mit Artem zum Nationalkämpfer gereift, kam wie er als Junge vom Taekwondo zum Boxen, weil er seine Fausttechnik verfeinern wollte, besitzt wie Artem den schwarzen Gurt im Taekwondo und diverse Titel, trainiert wie er bei dem früheren Profi-Weltmeister Artur Gregorian in Hamburg und beim früheren Amateur-Europameister Michael Timm am Olympiastützpunkt Schwerin. Aber zuletzt hatte Robert Pech. Zur Olympia-Qualifikation konnte er nicht antreten, weil die in Aserbaidschan stattfand, einem Land, das historisch bedingt gefährlich für gebürtige Armenier ist. Das erste Qualifikationsturnier für die WM verpasste er wegen seiner Hochzeit. Danach verletzte er sich.

Der Eine ist der Star, der Andere die moralische Stütze. Das ist das Geheimnis des Erfolgs

Artem ist der Star, Robert Trainingspartner und moralische Stütze. "Das hat Artem den Erfolg gebracht", sagt Timm. Und gerade jetzt, da so viele auf Artem schauen, muss Robert stark sein im Hintergrund.

"Wir missgönnen uns nie etwas", sagt Robert. "Mein Sieg ist sein Sieg", sagt Artem und zeigt die Zeichnung, die er sich nach Olympia auf den rechten Arm hat tätowieren lassen: Der letzte Samurai vor einer umwölkten Sonne, im Hintergrund dessen letzter Helfer. Das Tattoo ist eine Hommage an den Bruder. "Das spiegelt unseren Weg. Seite an Seite", sagt Robert und strahlt dabei eine Ruhe aus, in der dieser Satz nicht wie eine luftige Marketing-Botschaft klingt, sondern wie eine fest gemauerte Wahrheit.

Artem Harutyunyan will Gold gewinnen bei der WM "in meiner Heimatstadt Hamburg". "Ich bin so hungrig wie nie zuvor. Und Robert sagt: "Artem kann zu hundert Prozent auf meine Unterstützung zählen."

Sie finden, dass jedes Ereignis seine eigene Aura hat, eine Ausstrahlung, die sich als Gefühl in die Seele einbrennt. Die Weltmeisterschaft soll ein emotionales Fest werden, wie Olympia ein emotionales Fest war. Für Artem im Ring, für Robert in der ersten Reihe dahinter.

© SZ vom 24.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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