Borussia Dortmund:P wie Zukunft

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Hauptdarsteller eines wilden Spiels: Der junge Dortmunder Pulisic (links, gegen Ingolstadts Roger) bereitete das 2:3 vor und traf zum 3:3-Endstand. (Foto: Andreas Gebert/dpa)

Thomas Tuchel coacht beim BVB zurzeit eine Art Juniorenteam. Dessen Gesamtbegabung ist zwar vergleichbar mit der des FC Bayern - offenbart gegen den FC Ingolstadt aber auch Schwächen.

Von Christof Kneer, Ingolstadt

Schweren Schrittes schleppte sich der alte Fahrensmann nach dem 3:3 in die Interviewzone, und sein müder Blick konnte nicht verbergen, dass dieses anstrengende Spiel Spuren an seinem weit gereisten Körper hinterlassen hatte. Der Routinier sagte pflichtgemäß ein paar routinierte Worte, und es war gewiss nicht als Vorwurf gemeint, als er am Ende seiner Ausführungen noch über die nachfolgende Generation sprach. Wie er sich die abenteuerlichen Wellenbewegungen im Dortmunder Spiel erkläre? Da lächelte der Routinier und meinte milde, dass "heute halt doch sehr viele junge Spieler dabei waren".

Dann ging Matthias Ginter, 22, und machte in der Interviewzone Platz für den nächsten älteren Herren. Ihm folgte Julian Weigl, 21, und sagte ungefähr dasselbe.

Ein paar Meter weiter saß kurz darauf der wirklich steinalte Thomas Tuchel, 43, in der Pressekonferenz, und obwohl er in den 94 Minuten zuvor deutlich gelitten hatte, dürfte er sich so jung vorgekommen sein wie schon lange nicht mehr. Womöglich hat sich Tuchel nach diesem Spiel gefühlt wie vor zirka sieben Jahren. Damals war er leidenschaftlicher und hoch ambitionierter Jugendtrainer, und wer seine BVB-Elf bei diesem 3:3 in Ingolstadt verfolgt hatte, konnte zu dem Schluss kommen: Ja, Jugendtrainer ist Thomas Tuchel immer noch - oder besser: Er ist es wieder. Im Moment muss dieser Trainer ein Team coachen, dessen Führungsspieler 21 und 22 Jahre alt sind. Die Elf, die Tuchel am achten Spieltag aufs Feld schickte, sah aus wie eine Fantasie anregend begabte U 23, die zur Verstärkung den alten Weidenfeller ins Tor gestellt kriegt und den alten Piszczek auf die rechte Abwehrseite.

Pulisic und Passlack sind erst 18 - sie prägen die Aufholjagd des BVB

Sein Team sei in der ersten Hälfte "nicht bereit gewesen, Bundesliga zu spielen", sagte Tuchel später, "in keinem Bereich, weder offensiv noch defensiv, weder technisch noch taktisch, weder von der Intensität noch von der Körpersprache her". Was aus dem Zusammenhang gerissen wie eine scharfe Anklage klingen würde, war unter Berücksichtigung des Zusammenhangs eher eine Verteidigungsrede. Er sei "weit davon entfernt, einen Vorwurf zu formulieren", meinte Tuchel, er habe "in der Summe dessen, was wir hier verlangen, Verständnis".

Was sie hier verlangen: Das ist beim BVB inzwischen das Luxusproblem. Dieser Kader vereint eine Gesamtbegabung in sich, die es mit der Gesamtbegabung des FC Bayern fast aufnehmen kann, und nimmt man die jüngere Geschichte des BVB plus den Ruf dieses versierten Trainers hinzu, dann ergibt sich die Erwartungshaltung fast wie von selbst: Dann muss dieser BVB der sog. Bayern-Jäger sein, und er darf keine Berliner, Kölner und Hoffenheimer vor sich stehen haben. Dass diese Schlussfolgerung aber sehr theoretisch ist, sieht man, wenn es gegen ein sehr praktisches Team wie den FC Ingolstadt geht; ein Team, dessen Gesamtbegabung eher im Darmstadt-98-Bereich zu veranschlagen ist. Solche Jungs haben Spaß daran, Gegnern auf legitime Weise den Spaß zu verderben - mit eingeübten Freistoßflanken wie jenen des Linksverteidigers Markus Suttner, die zu frühen Treffern durch Almog Cohen (1:0, 6.) und Dario Lezcano (2:0, 29.) führten (die Tore sahen übrigens so identisch aus, dass die DFL prüfen sollte, ob es sich hierbei wirklich um zwei verschiedene Tore handelte/Anm. d. Red.).

Bei diesen Toren waren die Dortmunder Körper zwar anwesend, aber es gab keinen Geist, der die Körper steuerte - ebenso wenig bei Lezcanos 3:1, das Tuchel "am meisten ärgerte". Gerade hatte sein BVB durch Aubameyang das Abschlusstor geschafft (59.), aber wieder fehlte eine Instanz im Kopf, die den Körpern überzeugend klar macht, dass ein Spiel übrigens auch nach einem eigenen Treffer weitergeht - mit einem Anspiel, das die Ingolstädter sofort zum Tor bringenden Angriffszug nutzten.

Thomas Tuchel balanciert mit seiner Truppe gerade über einen schmalen Grat, zumindest mit jenen Truppenteilen, die überhaupt zur Verfügung stehen. Spieler wie Reus, Schürrle, Schmelzer, Guerreiro, Sokratis, Bender und Bürki sind verletzt oder krank, und im Ingolstädter Presseraum hat Tuchel noch mal "an die vergangene Transferperiode" erinnert, in der ihm "drei Persönlichkeiten" (Hummels, Gündogan, Mkhitaryan) verloren gingen. In der BVB-Elf von Ingolstadt gibt es nicht mehr so viele, die aus eigenem Erleben wissen, wie sich das so anfühlt - erst in der Champions League 97 Minuten in Lissabon zu spielen und drei Tage später Körper und Geist wieder auf Ingolstädter Freistoßflanken-Niveau zu trimmen. "Mentale Reife" nennt Tuchel jene Eigenschaft, die seine Elf nun eben im laufenden Spielbetrieb erwerben muss - unter anderem, um sich Aufholjagden wie in Ingolstadt zu ersparen, die erst recht an Körper und Geist zerren.

Aber Tuchel ahnt auch, dass sich dieser Lernprozess lohnen könnte. Hinter all dem Ärger über verpennte Freistoßflanken und unnötig vergeudete Kräfte sieht er eine Zukunft leuchten, die unter anderem mit "P" beginnt. Dortmunds Aufholjagd lebte auch von den 18-jährigen Christian Pulisic und Felix Passlack, die Tuchel nach den Belastungen der jüngsten Zeit erst mal von der Bank aus ins Rennen schickte. Pulisic bereitete das 2:3 durch Adrian Ramos vor (69.), Pulisics 3:3 fiel nach einer Flanke von Passlack. "Es wäre nicht verantwortungsvoll gewesen, die beiden schon wieder von Anfang an zu bringen", sagte Tuchel später. Warum auch: Für die stressigen Dauer-Einsätze hat er ja seine 21- und 22-jährigen Routiniers.

© SZ vom 24.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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