Biathlon-WM:Voll in die Pedale

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Mal schauen, wie das geht: Der Quereinsteiger Emilien Jacquelin hat sich schnell mit seinem neuen Sportgerät angefreundet. (Foto: Alexander Hassenstein/Bongarts/Getty Images)

Für Emilien Jacquelin ist seine Vergangenheit als Radfahrer Segen und Fluch. In der Verfolgung hat er nun erstmals ein maßvolles Rennen gezeigt - und ist Weltmeister.

Von Volker Kreisl, Antholz

Emilien Jacquelin hatte alles unter Kontrolle. Er zeigte keinen Respekt vor seinem hochdekorierten Gegner. Schon 300 Meter vor dem Ziel schaltete er zwei Gänge hoch und trat voll in die Pedale. Der Norweger Johannes Thignes Bö fiel gleich einen Meter zurück, hielt sich aber mühsam an Jacquelins Hinterrad. Dann kam das Entscheidende: die Gasse zu schließen, die Lücke neben dem Straßengitter, durch das Bö in den Rechtskurven noch vorbei stoßen konnte. Aber Jacquelin war wachsam: Er ließ scheinbar Platz und machte dann doch rechtzeitig dicht. Dann kam die Ziellinie in Sicht. Drei vier letzte Tritte - und Bö, der doch immer als der Schnellste im Feld galt, gab auf.

Natürlich stieg Emilien Jacquelin nach dem Rennen nicht von einem Sattel. Er schnallte vielmehr seiner Langlaufskier ab und reckte sie in die Höhe. Aber er ist ein ungestümer Typ, und er hat viel Fantasie, vor allem wenn es um seine Leidenschaften geht: Biathlon und Radfahren. Im Biathlon gewinnt er nun, aber die Bilder vom Radfahren hat er immer noch im Kopf, vor allem beim Schlussspurt. Gerade ist er in Antholz Weltmeister in der Verfolgung geworden, danach erklärte er: "Ich bin früher Radrennen gefahren, daran habe ich auf den letzten Metern gedacht, sonst hätte ich das niemals geschafft."

Monatelang hat sich der Biathlonsport bei den Männern zugespitzt auf das große Duell zwischen dem 26 Jahre alten Johannes Bö, dem Besten dieser Zeit, und dem 31 Jahre alten Franzosen Martin Fourcade, der gerade versucht, eine erste Altersdelle seiner großen Karriere zu überwinden. Bö hat den ersten Teil dieser Saison beherrscht, Fourcade den zweiten, auch weil Bö da Vater wurde und fehlte. Nun ist WM und die beiden kämpfen um den Sieg, gehen aber leer aus. Stattdessen räumte Jacquelin Gold ab, der weitgehend unbekannte und noch ungehobelte Biathlon-Rookie.

Der Urgroßvater fuhr auf der Bahn, der Großvater war Straßenprofi, der Vater fast auch

So richtig eingelassen auf den Winterzweikampf hatte er sich erst mit 16 Jahren, da hatte er endgültig seinen Traum begraben: eine Karriere als Radprofi, auf die er eine Jugend lang auf den Straßen rund um seine Heimat bei Grenoble hingearbeitet hatte. Nun zählt er zum derzeit wohl vielseitigsten Biathlonteam, dem der Franzosen mit Simon Destieux, Quentin Fillon Maillet und eben Fourcade. Sein Trainer Vincent Vittoz sagte dem Magazin 20 minutes: "Jacquelin hat alles für eine große Karriere." Dazu muss er noch viel arbeiten, aber die Grundlage war der Radsport.

Emiliens Urgroßvater fuhr Bahnrad, sein Großvater war Straßenprofi, sein Vater war fast Straßenprofi, und er und seine beiden Brüder verbrachten jene Kindheitsphase, in der aus Träumen Pläne werden, im Hochsommer oft bei den Großeltern. Dort mussten sie wegen der Juli-Hitze nachmittags zu Hause bleiben, was bedeutete: Jeden Tag Fernsehen, natürlich die Übertragung der Tour de France.

Was Jacquelin dabei begeisterte, war das Tempo, die Energie und, wie er einmal sagte, die "panache", das Herzblut, das zum Beispiel Fahrer wie Marco Pantani zeigten. Und weil er es ihnen nachmachen wollte, weil er immer mehr trainierte und Muskeln aufbaute, und seine Kräfte ihn nun manchmal überwältigen, ist dies nun sein Vorteil, aber zugleich auch seine große Herausforderung. Vittoz sagt: "Panache ist schön und gut, aber nur für drei Minuten." Während des Schlussspurts nämlich, für den Rest der Strecke, fürs Training, für die ganze Karriere brauche man eine gewisse "Regelmäßigkeit", einen Plan, man könnte auch sagen: Köpfchen.

Wenn Fourcade nur Vierter wird, trägt er für gewöhnlich ein versteinertes Gesicht ins Ziel

Jacquelin hatte vor seinem WM-Sieg noch kein hochkarätiges Rennen gewonnen, auch keinen Weltcup. Erst in diesem Jahr gelangen ihm drei Podestplätze, was auch damit zusammenhing, dass es offensichtlich Zeit braucht, als Quereinsteiger seine Kräfte zu bändigen. Vittoz sagt, Jacquelin sei früher immer der Beste bei der ersten Zwischenzeit gewesen, habe dann aber abgebaut. Ähnlich am Schießstand, da stürzte er sich darauf wie in einen Radsprint: In sechs Sekunden fertigte Jacquelin seine Serien zunächst ab und vergab dabei meist alle Chancen.

Was Jacquelin also brauchte, war das richtige Umfeld im Training, eine Art Mentor, einen Mitstreiter, der Autorität hatte, aber nicht die eines Chefs, sondern eines Vorbilds. Im Grunde wünschen sich das die meisten Sport-Einsteiger, viele finden auch einen Tippgeber und Begleiter, aber nicht jeder findet Martin Fourcade.

Der elfmalige Weltmeister, fünfmalige Olympiasieger und 90-malige Weltcupgewinner hat immer noch nicht seine Siegerform gefunden, er wurde Vierter am Sonntag, und normalerweise trägt Fourcade da ein versteinertes Gesicht über die Ziellinie. Diesmal aber: Fourcade strahlte und schlitterte die letzten Meter mit ausgebreiteten Armen dahin, um demjenigen zu gratulieren, mit dem er seit Jahren das Hotelzimmer teilt - Emilien Jacquelin, der Erster wurde, weil er überlegen geschossen hatte, sich die Kräfte einteilte und auch Herzblut zeigte, aber erst ganz am Schluss.

© SZ vom 18.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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