Biathlon-WM:Die Aussicht auf Kuchen

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Es gibt ein Leben neben dem Sport: Vanessa Hinz findet auch in der Oper neue Kraftquellen. Mit ihrer unbeschwerten Einstellung hat die 27-Jährige im Einzelrennen von Antholz ihre erste Einzelmedaille bei einer WM gewonnen.

Von Saskia Aleythe, Antholz

Den Blick nach oben hat Vanessa Hinz in den vergangenen Jahren immer wieder geübt. Wer bei Biathlon-Weltmeisterschaften Medaillen gewinnt, darf später auf die Bühne; unten in der ersten Reihe stehen die Mannschaftskollegen und jubeln. Vanessa Hinz hat oft nach oben geschaut, viel geklatscht und geschrien für die anderen. Am Sonntagabend zum Beispiel, als Denise Herrmann ihre Silbermedaille in Antholz verliehen bekam, dachte Hinz noch: "Es muss so ein verdammt geiles Gefühl sein, dort oben zu stehen. Ich will das auch irgendwann mal erleben."

Irgendwann, das ist so ein vages Etwas. Der Biathlon-Sport belohnt ja nicht immer nur die, die im Weltcup ohnehin ständig in den Ergebnislisten auftauchen; er hält für viele Athleten Verheißungen parat. Das Mögliche belebt die Fantasie und kann Motor sein für die Motivation, Vanessa Hinz hat den Schub jetzt selbst erlebt: Als am Dienstagabend im Antholzer Tal die Fans ihre Fähnchen schwenkten, schauten auch mal die Anderen zu ihr hinauf. "So einen Tag erlebt man vielleicht nie wieder in seinem Leben", sagte die 27-Jährige nach ihrer Silbermedaille im Einzel. Nach einer Saison der Tränen stand sie im Ziel und verdrückte Tränen der Rührung.

"Ich dachte mir diesmal nicht: Ich muss! Ich muss! Sondern ich hab's laufen lassen." - Vanessa Hinz im Einzelrennen bei der WM 2020. (Foto: Alexander Hassenstein/Getty)

Siegerehrungen hat Hinz schon einige erlebt, auf dem Podium stand sie auch schon ganz oben: Vier WM-Medaillen gewann sie mit Frauen- und Mixed-Staffeln, dreimal gab es Gold - "aber heute habe ich es ganz allein geschafft". Dabei hätte sie selber nicht darauf gewettet. Als sich ihre Schwester zum Zugucken auf der Antholzer Tribüne ankündigte, sagte ihr Hinz: "Einzel ist jetzt nicht so mein Rennen."

Pessimismus war das nicht, sie versuchte nur, realistisch zu sein. Seit ihrem ersten Start im Weltcup vor sieben Jahren waren ihr nur zwei individuelle Podiums-Platzierungen gelungen: ein Sieg in Kontiolahti im März 2018, Rang drei in Antholz im vorigen Jahr, beides im Massenstart. In der aktuellen Saison landete Hinz oft jenseits der Top 15, im Januar in Ruhpolding vergab sie in Führung liegend den Staffelsieg mit zwei Strafrunden. Angesichts dessen fand sie es unpassend, "zu sagen, ich will hier eine Medaille holen und auf dem Podium stehen. Das wäre ein bisschen weit hergeholt". Hinz sagte das am Montag. Eine Nacht vor ihrem Medaillengewinn.

Beim Speerwerfen avanciert ein 75-Meter-Werfer nicht plötzlich zum Olympiasieger, und ein durchschnittlicher Wasserspringer erfindet im Wettkampf nicht plötzlich ein neues Element - doch im Biathlon hängen die Medaillen manchmal wie Möhrchen vor den Nasen. In Antholz noch mehr: Durch die Höhenlage ist das Laufen anstrengender, den Puls zu beruhigen am Schießstand schwieriger - wer sich dort am besten im Griff hat, kann viel erreichen. Susan Dunklee (USA) und Lucie Charvatova (Tschechien) ist das im Sprint mit Silber und Bronze schon geglückt. Im Einzel kommt es durch die Strafminuten noch mehr aufs Schießen an. Und Hinz kam mit den besonderen Herausforderungen in Antholz immer besser zurecht: Nach zwei Fehlern im Sprint gehörte sie in der Verfolgung mit nur einer Strafrunde zu den Besten im Feld. Nun brachten ihr 19 Treffer bei 20 Scheiben Einzel-Silber, erst im letzten Durchgang verfehlte eine Patrone das Ziel.

Endlich oben: Silbermedaillengewinnerin Vanessa Hinz freut sich bei der Siegerehrung, dass nun auch mal die anderen zu ihr aufschauen. (Foto: Joel Marklund / imago)

Dabei hatte sie sich im Anschießen noch unsicher gefühlt, vor allem im Stehendanschlag. "Dass am Schluss jetzt nur ein Fehler passiert ist, macht mich überglücklich", sagte sie; von den ersten Sechs war das keiner anderen gelungen. Dass sie nach ihrem Rennen noch von Dorothea Wierer von Platz eins geschubst wurde - um 2,2 Sekunden - schmerzte sie wenig: "0,5 Sekunden, und der letzte Schuss geht daneben. Dann habe ich zwei Fehler, und dann habe ich gar nichts."

Im Training muss man sie manchmal ein bisschen "kitzeln" sagen die Trainer, Hinz selber sagt: "Ich bin kein Stundenklopfer." Stumpfes Kilometerabspulen ist nicht ihr Ding, und das ist ja tatsächlich eine Frage der Motivation: Wie bringt man sich dazu, sich zu quälen, wenn auf dem Podium doch meist die anderen landen? "Ich kann schon den Berg hochfahren, wenn man mir sagt, ich krieg oben einen Kuchen. Dann ist alles in Ordnung, wenn ich so ein Ziel habe", sagt sie. Und die Kuchen besorgt sie sich dann selber: Urlaub, Ausflüge, Zeit mit der Familie, nach dem erledigten Training. "Ich bin vielleicht ein bisschen anders, weil ich ein Familienmensch und Lebemensch nebenbei bin", sagt sie. Biathlon ist auch nur Biathlon, diese Einstellung hat ihr geholfen in Krisenmomenten. Am Wochenende fährt sie oft von Ruhpolding nach Hause zum Schliersee, der Familie ist es "total egal, wie gut ich bin. Die leiden mit mir, aber für die bin ich die Schwester, die Nichte, die Enkelin oder einfach die Tochter." Und nicht die mit den Strafrunden oder Rang 35 zum Saisonstart.

"Ich muss aus jedem schlechten Rennen etwas Gutes rausziehen, weil das Rennen sonst umsonst war", sagt sie; diese Einstellung hat ihr über Enttäuschungen hinweggeholfen. Ihre Kraftquellen sucht sie manchmal auch in Opern - Andrea Bocelli, Luciano Pavarotti, Carmina Burana. "Sport und Musik sind gar nicht so weit auseinander", findet Hinz, Leidenschaft müssen Sportler und Sänger gleichermaßen aufbringen. "Wenn wir nur halbherzig laufen, merkt man es sofort. Wenn die nur halbherzig singen, hörst du es auch sofort", findet sie. Am Dienstag in Antholz war Vanessa Hinz mit ganzem Herzen dabei.

© SZ vom 20.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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