Bayer Leverkusen:Frühlingsblüte vor Pappkulisse

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Leverkusen kann Geisterfußball - und der Hype um Kai Havertz beflügelt offenbar das ganze Team.

Von Ulrich Hartmann, Mönchengladbach

Das weltweit erste Fußballspiel vor 12 993 stummen Pappfiguren haben die stolzen Erfinder dieser speziellen Kulisse verloren. Vielleicht haben die Fußballer von Borussia Mönchengladbach die stoischen Blicke ihrer sonst stets aufmunternden Fans nicht ertragen. Am Ende siegten die Gäste von Bayer Leverkusen, die zwar auch ein paar eigene Pappfans im Gästeblock entdeckten, sich aber davon nicht irritieren ließen und ihren stillen Unterstützern nach dem Abpfiff auch keine Welle spendierten. 4:1 in Bremen, 3:1 in Gladbach - Leverkusen hat seine ersten Geisterspiele perfekt gestaltet. Wenn am Dienstag auch die publikumsfreie Heimpremiere gegen Wolfsburg gelingt, dann nimmt die Werkself nicht nur Kurs auf die Champions League, sondern gilt vielleicht sogar noch als Titelkandidat.

Immer im Frühling, wenn sich in der Heimat des niederländischen Trainers Peter Bosz die Tulpen öffnen, blüht die Bayer-Elf auf. Schon in der Vorsaison legte sie einen furiosen Schlussspurt hin und kletterte vom neunten auf den vierten Platz. Am letzten Spieltag 2019 verdrängte Leverkusen Gladbach aus der Champions League. Nun könnte sich diese Geschichte wiederholen. Nach der 1:2-Heimniederlage gegen Gladbach Anfang November war Leverkusen noch Zehnter und hatte sieben Punkte Rückstand auf die Borussia, die damals stolzer Tabellenführer war. Am Samstag nun überholte Bayer 04 die Mönchengladbacher mit dem Sieg im Direktduell. Die Elf von Bosz absolviert bisher die beste Rückrunde der Vereinsgeschichte, hat aus zehn Spielen 25 Punkte geholt und sechs der jüngsten sieben Spiele gewonnen.

Unter Beobachtung: Kai Havertz (li.), gegen den Gladbacher Matthias Ginter. (Foto: Ina Fassbender/AP)

"Körperlich, taktisch und spielerisch", sagt der Coach, sei man in dieser Schlüsselphase in einem sehr gutem Zustand: "Die neuen Spieler sind schon fast ein Jahr dabei und setzen unser System immer besser um." Tatsächlich spielen Daley Sinkgraven links hinten, Moussa Diaby links vorne, Kerem Demirbay im offensiven Zentrum und der erst im Januar gekommene Innenverteidiger Edmond Tapsoba bereits relevante Rollen. Alle Vier standen am Samstag in der Startelf und trugen zum mutigen hohen Anlaufen sehr gut bei. Es ist ungefähr der gleiche Spielstil, mit dem Bosz 2017 in Dortmund gescheitert war, weil seine Spieler damals zwar den offensiven Part umsetzten, nicht aber den defensiven.

Weil alle alles mitgestalten müssen, lobt Bosz ausdrücklich seine komplette Mannschaft. Und er tut dies auch noch aus einem anderen Grund: Die Öffentlichkeit kapriziert sich auf Kai Havertz, 20, Deutschlands größtes Talent, das Leverkusen im Sommer vermutlich verlässt. Bayern München, Manchester City und Real Madrid werden als künftiger Arbeitgeber gehandelt - und Havertz nutzt diese Aufmerksamkeit für spektakuläre Leistungen. Eigentlich ist er Mittelfeldspieler, aber in Bremen und Mönchengladbach lief er jetzt als zurückhängender Mittelstürmer auf - und traf jeweils doppelt. Er war in jedem der letzten sechs Spiele an Toren beteiligt.

Als Bosz am Samstag in der virtuellen Pressekonferenz nach Havertz gefragt wurde, lachte er erst einmal seltsam übertrieben. Mit solchen Reaktionen will er offenbar Havertz' medialen Heiligenschein dimmen. "Er hat heute nicht sein bestes Spiel gemacht", hatte Bosz nach dem Bremen-Spiel gesagt - und nach dem Gladbach-Spiel sagte er lapidar: "Heute war er ein bisschen besser als in Bremen." Bosz steuert dem Hype entgegen, so gut er kann - auch um seine anderen Spieler zu würdigen. Das Interesse der europäischen Topklubs an Havertz wird er mit seinen Relativierungen aber nicht mindern.

Havertz selbst will nicht explizit über seine Zukunft reden, aber seine Worte sprechen Bände. Er sei Leverkusen "dankbar für alles", sagte er am Samstag, und dass man am Saisonende sicher eine Lösung finde. Dies könnte auf die Höhe der Ablöse abzielen, sein Vertrag bei Bayer gilt schließlich bis 2022. Die spannende Frage ist, ob Leverkusen trotz der Corona-Unwägbarkeiten die erhoffte dreistellige Millionensumme erzielen kann.

Spannend ist aber auch, ob die Bayer-Elf ihre Form in den nächsten Monat transportieren kann. Am 6. Juni empfängt man den FC Bayern zum Topspiel, in der Woche danach ist das Pokal-Halbfinale beim Viertligisten Saarbrücken vorgesehen. Erstmals seit elf Jahren könnte Leverkusen ins Pokalfinale einziehen. Und in der Liga? Ist sogar ein Eingreifen ganz oben möglich?

Unterhalb der sechs Leverkusener Pappfans im Gästeblock stand in Mönchengladbach übrigens auch ein Papp-Konterfei des SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach. Er hatte die Fortsetzung der Saison kritisiert, und er hatte die Installation seines Papp-Avatars im Stadion wohl auch nicht selbst in Auftrag gegeben. So las sich jedenfalls seine Reaktion bei Twitter - mit einem rhetorischer Seufzer: "Oh well ..."

© SZ vom 25.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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