Bayer Leverkusen:Auf Seelensuche

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Vor dem Hit gegen Barça geht es bei Leverkusen nicht nur ums Weiterkommen im Europapokal. Der Trainer ist unter Druck, die Zukunft von Stefan Kießling ist ungewiss.

Von Philipp Selldorf, Leverkusen

Neulich im "Stadioneck" in der Karl-Marx-Straße 36 in Leverkusen: Bayer-Sportchef Rudi Völler und Fan-Direktor Meinolf Sprink betreten den Schankraum, eine Handvoll Gäste steht zum Empfang bereit. Dieses Treffen ist ein Wiedersehen, denn ein paar Tage zuvor waren sich beide Parteien schon mal begegnet: Auf dem Flughafen von Minsk in Weißrussland hatte Völler mit den Fans von Bayer Leverkusen über das vorabendliche Spiel bei Bate Borissow (1:1) diskutiert. Die Fans waren unzufrieden mit dem Auftritt ihrer Elf und erbost über das Verhalten der Spieler, die nach der Partie der Kurve ferngeblieben waren. Es gab einen lebhaften Austausch, in dessen Verlauf Rudi Völler einen jungen Fan beschimpfte. Das Wort "Pisser" fiel.

Beim Gespräch im "Stadioneck" war diese Beleidigung kein wichtiges Thema mehr. Der Disput war schnell ausgeräumt, und womöglich hat diese kleine Entgleisung der gemeinsamen Sache sogar eher genutzt als geschadet: "Rudi Völler kann man den kompromisslosen Einsatz für unseren Verein zweifelsohne nicht absprechen", lobte die Fan-Gruppe in ihrem Resümee der Aussprache. Aber es wurde dann schon auch die Frage aufgeworfen, ob diese Mentalität von jedem im Verein gelebt werde.

Vor dem Spiel gegen den FC Barcelona an diesem Mittwoch beschäftigen sich die Leverkusener daher nicht nur mit der Aufgabe, wie man Messi, Neymar und Suárez aufhält - "die drei Außerirdischen", wie Rudi Völler sie nennt. (Wobei Neymar verletzt ausfällt.) Es geht nicht nur um Bayers möglichen Verbleib in der Champions League, sondern auch darum, wohin das große Ganze im rheinischen Werksverein derzeit steuert; es geht um die mythische Figur der Vereinsseele. Die Fans im "Stadioneck" hielten deswegen den Hinweis auf die Bedeutung von "Identifikationsfiguren in Verein und Mannschaft" für wichtig: "Potenziell gute bis sehr gute Fußballer in den eigenen Reihen zu haben, reicht nicht aus, um eine enge Bindung zwischen Fans und Mannschaft herzustellen", mahnten sie.

Bayer Leverkusen ist schon längst nicht mehr das abenteuerliche Reiner-Calmund-Leverkusen, es ist aber auch nicht mehr das Leverkusen, das es zu Zeiten des manchmal verschrobenen und nicht immer glücklich agierenden, aber charaktervollen Wolfgang Holzhäuser war. Bayer 04 ist jetzt mehr denn je eine Tochter der Bayer AG, an der Spitze steht der vom Konzern dorthin delegierte Marketingexperte Michael Schade, 62, der den Publikumsgeschmack durch gepflegte Formulierungen zu bedienen versucht. Man sagt ihm nach, ein guter Redner zu sein.

Rolfes, Castro und Reinartz haben eine Lücke hinterlassen - Vorjahres-Größen schwächeln

Dass er sich den Anhängern als "Fan der Fans" präsentierte, fand aber nur bedingt Anklang. In Fan-Foren nennt man ihn spöttisch FdF. Wenn Schade mal wieder fernsehbildgerecht an der Trainerbank auftaucht, sobald Bayer ein Spiel gewinnt, wird er kritisch beäugt.

Schade kann nichts dafür, dass er den Verein durch eine Zeit führt, die von unvermeidlichen Veränderungen im Gefüge bestimmt wird. Vor anderthalb Jahren verlor Bayer seinen Haus- und Transferexperten Michael Reschke, 58, an den FC Bayern. 35 Jahre hatte er dem Haus angehört. Nachfolger Jonas Boldt hat seine Kompetenz und Kenntnisse schon überzeugend nachgewiesen, aber er ist 33 Jahre alt - zu jung, um prägend Einfluss zu nehmen.

Zum Beispiel auf den meinungsfesten Trainer Roger Schmidt, der nicht nur an den Formschwächen der Vorjahresgrößen Wendell, Calhanoglu und Bellarabi arbeiten, sondern ebenfalls einen Übergang moderieren muss. Die langjährigen Bayer-Profis Castro, Rolfes und Reinartz haben eine Lücke im Team geschaffen, als sie im Sommer den Verein verließen; der verbliebene Lokalheld Stefan Kießling musste seinen Stammplatz an den Mexikaner "Chicharito" Hernandez abtreten. Dass die Fans in der Nordkurve jetzt den obendrein glamourösen Serienschützen Chicharito feiern, heißt nicht, dass sie Kießling vergessen hätten. Auch wenn er in dieser Saison erst ein einziges Bundesligator geschossen hat.

Der mögliche Abschied des Mittelstürmers im Winter wurde zuletzt zunehmend öffentlich thematisiert. Boldt hatte eingeräumt, dass die Lage für Kießling "sehr unbefriedigend" sei und dieser sich in all den Jahren "das Recht erarbeitet" habe, das Gespräch mit der Vereinsführung zu suchen, obwohl ihn sein Vertrag bis 2017 bindet. Während Trainer Schmidt möglichen Konsequenzen entgegentrat ("Ich denke nicht daran, den nächsten gestandenen Spieler gehen zu lassen"), dementierte Völler nur unter Vorbehalt ("Stand jetzt kein Thema"). Kießlings Berater Ali Bulut meldete höflich, aber vorsorglich Gesprächsinteresse an ("Man muss sachlich und vernünftig miteinander umgehen").

Der Betroffene selbst äußert sich nicht. Ein Wechsel im Spätstadium der Karriere entspricht eigentlich nicht seiner Lebensplanung. Der 31 Jahre alte Franke Kießling ist im Rheinland heimisch geworden. Als er 2006 als kostspielige Nachwuchshoffnung aus Nürnberg eintraf, hat ihn damals der Mediendirektor Meinolf Sprink in Empfang genommen. Erste verbindende Amtshandlung: Sie schauten gemeinsam ein WM-Spiel an. Sprink sagt: "Stefan ist ein Mensch, der diesen Verein gelebt hat und lebt." Mit anderen Worten: ein Mann, den Bayer 04 dringend brauchen kann.

© SZ vom 09.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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