Attentat in Japan:Trauern durch Spielen

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Stille vor dem Spiel: Die Mannschaften Japans und Frankreichs und das Publikum schweigen im Gedenken an den ermordeten Premier Shinzo Abe. (Foto: Kyodo/Reuters)

Die pünktlich ausgetragene Rugbypartie zwischen Japan und Frankreich nur einen Tag nach dem tödlichen Attentat war wohl die beste Art, Premier Shinzo Abe noch einmal zu ehren.

Von Thomas Hahn, Tokio

Die 57 000 Zuschauerinnen und Zuschauer im weiten Rund erhoben sich vor dem Spiel zu einer Schweigeminute. Frankreichs Team zeigte ein Nationaltrikot, das den Namen Shinzo Abes trug. Frankreichs Nationaltrainer Fabien Galthien erinnerte daran, dass Abe als Premierminister dazu beigetragen hatte, die Rugby-WM 2019 zum ersten Mal nach Japan und damit auch zum ersten Mal nach Asien zu holen: "Er hat viel für Rugby getan." Der japanische Kapitän Atsushi Sakate erinnerte sich daran, wie Abe damals in die Kabine der Mannschaft kam. Und Sakates Vorgänger Michael Leitch, der Japans Mannschaft bei der Heim-WM zu einer gefeierten Viertelfinalteilnahme geführt hatte, sagte: "Ich bin wirklich traurig für seine Familie."

Die Rugby-WM 2019 gehörte wie Olympia 2020 zu Abes Strategie, Japan mit Großereignissen als Wirtschaftsstandort zu stärken

Spielen oder nicht spielen - das ist die Frage nach schrecklichen Ereignissen. Vor dem Rugby-Test der Japaner gegen Frankreich, dem zweiten binnen sieben Tagen, gab es aber wohl nie Zweifel. Das Spiel begann nur etwas mehr als 24 Stunden, nachdem der Ex-Marinesoldat Tetsuya Yamagami Japans prägenden Politiker Shinzo Abe bei einer Wahlkampfveranstaltung in Nara mit einem selbstgebauten Gewehr erschossen hatte. Die Tat war sinnlos und brutal. Aber was hätte eine Absage geändert? Also blieb alles wie geplant.

Vor dem großen Nationalstadion in Kasumigaoka waren Buden aufgebaut. Fahnen mit dem Slogan des japanischen Rugbyteams, den Brave Blossoms, schmückten die Arena: "Go with the Brave." Und die Menschen kamen in Massen. Trugen ihre Fan-Trikots, die sie sich vermutlich bei der WM zugelegt hatten. Machten Selfies vor einem großen Mannschaftplakat. Kauften Souvenirs an den Fanartikel-Ständen. Alles war, als wäre alles gut.

Natürlich war nicht alles gut. Aber dass Japans Rugby-Gemeinde einfach weiterspielte, war wahrscheinlich sogar die beste Art, den Ex-Premier Abe zu ehren. Dieser stimmungsvolle Tag im Nationalstadion wirkte wie ein Schmuckstück aus dem Nachlass des einflussreichen Politikers. Die Rugby-WM 2019 gehörte damals genauso wie Olympia 2020 zu Abes Strategie, Japan mit internationalen Großereignissen als Tourismus- und Wirtschaftsstandort zu stärken. Japans Rugby-Team war in gewisser Weise ein Werkzeug seiner Image-Kampagne. Es funktionierte. Die Brave Blossoms feierten hinreißende Siege in vollen Stadien, eine Art Rugby-Boom entstand im sonst so reservierten Inselstaat. Am Samstag gegen Frankreich lebte die Begeisterung wieder auf.

Das Nationalstadion ist auch ein Denkmal dafür, dass Abe und seine Gefolgsleute nicht immer an Nachhaltigkeit dachten

Und auch der Schauplatz der Partie, das elegante, neuerbaute Nationalstadion mit seinen holzverkleideten Tribünen und begrünten Balkonen, ist ein Vermächtnis aus Abes zweiter Regierungszeit von 2012 bis 2020. Es sollte ursprünglich mal der Final-Ort der Rugby-WM werden. Aber das klappte nicht, weil der Bau nach dem ersten, futuristischen Entwurf der weltberühmten Architektin Zaha Hadid zu teuer geworden wäre - und weil er unter anderem Abe nicht gefiel. Im Juli 2015 verwarf Shinzo Abe Hadids Plan. Der japanische Architekt Kengo Kuma bekam den Zuschlag. Zur Rugby-WM wurde er nicht mehr fertig mit seinem Stadion. Bei den coronabedingt verlegten Olympischen und Paralympischen Spielen war es dann der zuschauerlose Schauplatz der Eröffnungs- und Schlussfeiern sowie der Leichtathletik-Wettbewerbe. Und jetzt steht es wie eine riesige japanische Sportkathedrale in Tokios Zentrum.

2,4 Milliarden Yen, umgerechnet 17,3 Millionen Euro, kostet allerdings jährlich die Instandhaltung. Einen Plan für die kostendeckende Nachnutzung gibt es nicht. Das Nationalstadion ist deshalb heute auch ein Denkmal für den Umstand, dass der rechtskonservative Machtmensch Shinzo Abe und seine Gefolgsleute bei ihren Strategien nicht immer an Nachhaltigkeit dachten. Und der Rugby-Boom? Es gibt ein offizielles Statement des Weltverbandspräsidenten Bill Beaumont, wonach die WM 2019 dazu beigetragen habe, in Asien 2,25 Millionen Rugby-Spielerinnen und -Spieler dazuzugewinnen, mehr als eine Million davon in Japan. Allerdings brach die Pandemie die große Welle in Japan. Der Boom verlor sich in den Coronavirus-Ängsten, vor allem für die Brave Blossoms. 2020 hatten sie kein einziges Testspiel, 2021 nur sieben. Chefcoach Jamie Joseph, ein gebürtiger Neuseeländer, sagte im Mai: "Wir sind deutlich hinterher in unserer Entwicklung."

Aber für die Pandemie konnte Shinzo Abe ja nichts. Für die Größen des japanischen Rugbys bleibt er deshalb ein Held. Atsushi Sakate sagte: "Er hat einen Beitrag für die Rugby-Welt und alles in Japan geleistet." Michael Leitch nannte Abe einen "großartigen Mann", und er sagte: "Ich hatte gehofft, dass wir gewinnen, um seinen Namen zu ehren."

Fast hätte es geklappt gegen die Rugby-Großmacht Frankreich, die 2023 Gastgeber der nächsten WM ist. Die 15:20-Niederlage war knapper als das 7:43 in Aichi eine Woche zuvor. Zeitweise sah es sogar so aus, als könne Japan gewinnen. Der entscheidende Try von Baptiste Couilloud kam spät. Und nachdem Japans Tevita Tatafu den Ball unter großem Jubel des Publikums irgendwie über die Linie des französischen Malfelds gefummelt hatte, machte der Videobeweis die Freude kaputt. Die Bilder zeigten, dass Tatafu den Ball nicht kontrolliert auf dem Rasen aufgesetzt hatte. Es blieb beim Rückstand. Kurz darauf war Schluss und eine seltene Chance vergeben. "Ich bin enttäuscht", sagte Jamie Joseph. Aber natürlich wusste er, dass diese Niederlage gerade nicht Japans größtes Problem ist.

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