Atlético Madrid:Prophet im Schützeng­raben

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Höchstverdiener unter sich: Antoine Griezmann und Trainer Diego Simeone. (Foto: Sergio Perez/Reuters)

Dem Ziel, das Finale im eigenen Stadion zu erreichen, hat Atlético vieles untergeordnet. Diego Simeone soll Europas bestverdienender Trainer sein. Doch die Gegenwart ist ernüchternd.

Von Javier Cáceres, Madrid/Berlin

Im vergangenen Jahr musste Diego Simeone vier europäische Pflichtspiele von der Tribüne aus anschauen: Bei einem Europa-League-Spiel hatte er den Schiedsrichter beleidigt, der europäische Fußballverband Uefa hatte ihn daraufhin gesperrt. Vielleicht wäre es gut, Simeone würde die Champions-League-Partie, die am Mittwochabend im Estádio Metropolitano von Madrid ansteht, wieder in einer VIP-Lounge verfolgen - damit ihm nicht erneut die Gäule durchgehen! Für emotional nicht involvierte Zuschauer mag die Partie zwar die Erotik einer Dentisten-Visite versprühen: Simeones Atlético trifft auf Juventus Turin, was wohl bedeutet, dass die beiden defensiv bestorganisierten Mannschaften Europas die Widerstandsfähigkeit ihrer Feuerwälle messen. Fußball zum Zähneausbeißen.

Nur: Für Diego Simeone steht eine Menge auf dem Spiel. Für seine Mannschaft ist die Begegnung mit dem italienischen Serienmeister auch so etwas wie die letzte Patrone der Saison. Die letzte Chance, die erhoffte Apotheose doch noch zu erleben, die da wäre: die Teilnahme am Champions-League-Finale 2019, das am 1. Juni ansteht. Im eigenen Stadion.

Das Betonduell: Atlético kassiert in der Champions League im Schnitt 0,7 Gegentreffer, Juve 0,8

In einem Heimfinale erstmals in der Vereinsgeschichte den wichtigsten Titel des Kontinents zu erobern, den der Nachbar Real schon 13 Mal abgeschleppt hat - das war der Traum, dem bei Atlético alles untergeordnet wurde. Auch die Finanzen. Der Franzose Antoine Griezmann wurde im Sommer für ein Heidengeld davon abgehalten, den Sirenengesängen des FC Barcelona zu erliegen. Für 126 Millionen Euro wurden neue Spieler dazu geholt, allein die Verpflichtung des Weltmeisters Thomas Lemar (AS Monaco) schlug mit 70 Millionen Euro zu Buche. Im Winter konnte der Angriff des FC Bayern München auf den (derzeit verletzten) Verteidiger Lucas Hernández vorerst abgewehrt werden. Zudem wurde der einstige Juventus-Stürmer Álvaro Morata beim FC Chelsea ausgeliehen.

Doch trotz des Stresses liest sich die Bilanz ernüchternd. Im Pokal schied Simeones Team gegen den abstiegsgefährdeten Erstligisten FC Girona aus, in der spanischen Liga liegt Atlético bei 14 ausstehenden Runden sieben Punkte hinter dem Tabellenführer Barça zurück, und nach Niederlagen bei Betis Sevilla und Real sowie einem mühevollen 1:0 beim armen Stadtnachbarn Rayo Vallecano ist man gegen das Juventus Turin von Cristiano Ronaldo alles andere als favorisiert. Und dennoch: Zweifel am argentinischen Propheten Simeone sind nicht erlaubt. Im Gegenteil.

Seit 2011 fungiert der frühere argentinische Nationalspieler als Trainer Atléticos, damals lag der Verein nur vier Punkte vor den Abstiegsrängen. Unter Simeone holte Atlético seither eine spanische Meisterschaft, zwei Europa-League-Titel, einen spanischen Pokal, zwei europäische sowie einen spanischen Supercup; dass zwei Europa-League- und zwei Champions-League-Endspiele verloren gingen, fällt nicht mal ansatzweise ins Gewicht. Wie sehr Atlético von seinem Coach abhängt, war letzte Woche zu beobachten. Just als Spaniens Zeitungen sich mit Berichten darüber füllten, dass der Gründer und langjährige Leiter der Nachwuchsabteilung Atléticos, der 88-jährige Marianisten-Mönch Manuel Briñas, Anfang der 70er Jahre einen Jungen sexuell missbraucht haben soll, verkündete Atlético seinen verstörten Anhängern eine gute Nachricht. Simeone verlängerte seinen Vertrag bis 2022, am Valentinstag, dem Tag der Verliebten. Der Verein streute, dass Simeones Gehalt auf rund 20 Millionen Euro angehoben wurde. Doch es gibt auch das Gerücht, dass er sogar leicht über dem bestverdienenden Spieler des Kaders liegt, Antoine Griezmann, der bei angeblich 23 Millionen Euro netto pro Jahr eingeschlagen hat. Sollte Simeone tatsächlich über dem Tarif des französischen Weltmeisters liegen, dürfte er der bestverdienende Coach Europas sein, noch vor Pep Guardiola von Manchester City.

Auch Simeone weiß, dass derart exorbitante Beweise der Wertschätzung durch den Arbeitgeber mit seiner Vergangenheit zu tun haben. Doch damit will er sich nicht begnügen. "Ab sofort werde ich mich nicht damit aufhalten, irgendetwas von dem zu analysieren, was wir erreicht haben. Der Fußball und das Leben hängen vom Heute ab und von dem, was da kommt", sagte er.

Was auch immer kommen mag; es wird wie die Vergangenheit einem Fundament aus Beton geschuldet sein, das vor allem in Juves italienischer Heimat mit aufgerissenen Mündern beobachtet wird. Voller Bewunderung sezierte die Gazzetta dello Sport am Dienstag die Statistiken und rechnete vor, dass Atlético in den letzten fünf Spielzeiten der Champions League im Schnitt nur 0,7 Gegentreffer pro Partie hinnehmen musste; nur Juventus (0,8) kam Simeones Kriegern nahe (FC Bayern, zum Vergleich: 1,1). In der heimischen Liga kam Atlético im gleichen Zeitraum auf 0,66 Gegentoren pro Spiel - so viele wie Juventus. Einzig in der Rubrik gegnerische Torschüsse fiel Atlético (3,7) gegenüber Juventus ab (3,2). Dafür hat Atlético in den letzten drei Spielzeiten 55 Pflichtspiele ohne Gegentor überstanden, Juve kam auf 53.

Das lenkt das Auge vor allem auf den Mann, der neben Griezmann zu den wenigen Spielern zählt, die ihre Form der letzten Jahre halten konnten: Torwart Jan Oblak. Simeone liebt ihn, selbstverständlich. Genießen dürfte der Coach das Spiel gegen Juventus aber nur, wenn die Schützengräben vor Oblaks Tor sich als unüberwindbar erweisen.

© SZ vom 20.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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