Angelique Kerber:Ihr Weg

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"Das soll einfach nicht klappen mit mir, oder?" schrieb Angelique Kerber noch vor einem Jahr an die Bundestrainerin. Nun hat sie die US Open gewonnen und ist Weltranglisten-Erste - weil sie zu sich selbst gefunden hat.

Von Jürgen Schmieder, New York

Wer die US Open gewinnt, das erfährt Angelique Kerber am Samstagabend, der darf nicht einfach mit dem Pokal davonlaufen oder in den Brunnen vor der Unisphere-Statue im Corona Park von Flushing Meadows hüpfen. Wer die US Open gewinnt, der wird erst einmal drei Stunden lang über die Tennisanlage getrieben wie ein Stier durch Pamplona. Fotos auf dem Tennisplatz. Ein Glas Champagner im Spielergarten. Interview vor dem Stadion mit einem amerikanischen Fernsehsender. Fotos. Pressekonferenz. Gespräch mit Journalisten, denen die Pressekonferenz nicht genügt. Termin mit einem Sponsor. Noch mehr Fotos.

Mehr als drei Stunden nach ihrem Erfolg gegen Karolina Pliskova ist Kerber, 28, noch immer irgendwo in diesem Stadion unterwegs, die Gesprächsthemen im Spielergarten drehen sich längst nicht mehr um dieses Endspiel, das Kerber gegen die Tschechin 6:3, 4:6, 6:4 gewonnen hat. Es geht um Religion und Politik, um französischen Champagner und kalifornischen Rotwein, um New York und den Rest der Welt. Auf dem Tisch liegen in Alufolie verpackte Schinkenstullen und sauere Gummipfirsichringe, von Kerbers Mutter Beata auf die Anlage geschmuggelt. Die saß da mit Trainer Torben Beltz, Physiotherapeutin Cathrin Junker und der ehemaligen Weltklassespielerin Mary Pierce. Es war ein gemütlicher Abend unter Freunden. Nur halt bisher ohne Tochter Angelique.

Wer schon einmal bei Feierlichkeiten nach bedeutsamen Sporttiteln dabei gewesen ist, bei der Meisterschaft von Borussia Dortmund im Jahr 2011 etwa oder dem Olympiasieg der deutschen Hockeyspieler bei Olympia 2012, dem kommt diese Situation geradezu grotesk vor: Niemand krabbelt betrunken herum oder demoliert das Mobiliar, niemand besudelt die Trophäe. Der größte Aufreger: Beltz, der sich aufgrund einer Wette mit Kerber nun einen Schnauzbart wachsen lassen muss, fordert Junker auf, doch endlich, endlich mal den kalifornischen Rotwein zu probieren. Sie lehnt freundlich lächelnd ab.

Es ist wunderbar langweilig - und vielleicht ist es ganz gut so, wie es ist.

Auf der Pressekonferenz gönnt der Moderator mit US-Open-Krawatte der Siegerin erst einmal ein paar Augenblicke. Kerber blickt in diesen zehn Sekunden auf diesen tendenziell hässlichen Silberpokal, den sie gerade gewonnen hat, und sieht darin wohl nicht nur ihr Spiegelbild, sondern all das, was sie in den vergangenen zwölf Monaten erlebt hat. Die Niederlage gegen Wiktoria Asarenka vor einem Jahr, nach der sie der Bundestrainerin Barbara Ritter eine SMS schickte mit dem Inhalt: "Das soll einfach nicht klappen mit mir, oder?" Oder den Moment bei den WTA Finals in Singapur, als sie nach ihrem Scheitern zunächst heulte, die Ansetzung beklagte und später schwor, sich nie wieder über unwichtige Dinge wie Ansetzung und Auslosung zu beklagen. "Das war der Knackpunkt, das war das letzte Mal, dass ich Druck zugelassen habe", sagt sie - ihre Erstrundenniederlage bei den French Open im im Mai hat sie offenbar verdrängt .

"Wer immer wieder den gleichen Fehler macht, der muss irgendwann daraus lernen."

Vielleicht hat sie auch gesehen, wie sie im Januar die Australian Open gewonnen und später die Endspiele von Wimbledon und Olympia verloren hat. Auch wichtige Augenblicke, wie sie nun erklärt.

Und vielleicht hat sie in diesen zehn Sekunden auch an diese Trainingseinheit vor Turnierbeginn gedacht, als Beltz ihr im Arthur Ashe Stadium die Bälle aus dem Halbfeld um die Ohren prügelte und sie dazu aufforderte, diese Aufschläge gefälligst nicht nur über das Netz zu schubsen, sondern aggressiv zu attackieren. Am Samstag gewinnt Kerber gegen Pliskova auch, weil sie Mitte des dritten Satzes aufhört, die schnellen und präzisen Spieleröffnungen ihrer Gegnerin übers Netz zu schubsen - und sie aggressiv attackiert.

Zehn Sekunden können eine lange Zeit sein für jemanden, der gerade die US Open gewonnen hat.

"Es ist unglaublich, was in den vergangenen zwei Wochen passiert ist", sagt Kerber, "es war nicht einfach für mich, weil ständig jemand nach der Weltrangliste gefragt und Druck aufgebaut hat." Es hat tatsächlich andauernd jemand gefragt, und Kerber hat zwei Wochen lang die Antworten zurückgeschubst. Erst gegen Ende des Turniers wurde sie aggressiver. Es hat ja auch immer diesen Hinweis auf Steffi Graf gegeben, mit der sie sich im Frühjahr in Las Vegas getroffen hatte. "Sie ist mein Idol", hat Kerber immer wieder brav geantwortet. Erst am Donnerstag sagt sie selbstbewusst: "Es war wichtig für mich, meinen eigenen Weg zu finden und auch zu gehen. Steffi hat mir gratuliert und viel Glück gewünscht - es war aber auch die erste Nachricht seit einigen Monaten."

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(Foto: Justin Lane/dpa)

Zufall oder Absicht: Angelique Kerber küsst den Pokal der US Open exakt dort, wo in der Auflistung der Sieger Steffi Grafs Namen steht.

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(Foto: Jason Szenes/dpa)

Angelique Kerber hat ihre Finalgegnerin, die Tschechin Karolina Pliskova, nicht vom Platz geprügelt. Fast jeder Ballwechsel ist ein kleines Drama.

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(Foto: Mike Hewitt/AFP)

Starke Konkurrenz: Am Beginn des dritten Satzes dominiert Pliskova die Deutsche, die gegen die große Tschechin plötzlich kein Mittel findet.

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(Foto: Timothy A. Clary/AFP)

Ein Break zurück im dritten Satz? Egal! Die 28-jährige Kielerin hängt sich noch einmal rein, bis sie das Match gedreht hat.

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(Foto: Timothy A. Clary/AFP)

Nach 2:07 Stunden verwandelt Kerber den Matchball und klettert auf die Tribüne zu Trainer Torben Beltz.

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(Foto: Charles Krupa/AP)

Freundlich bugsieren die Ordner Angelique Kerber zurück auf den Platz. Schließlich wartet die Siegerehrung, der zeremonielle Ablauf ist streng geregelt.

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(Foto: Al Bello/AFP)

Mit Tränen im Gesicht wartet die Deutsche dann auf die Siegerehrung.

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(Foto: Michael Heiman/AFP)

Beim ersten Anlauf streckt Kerber noch die falsche Seite des Pokals ins Blitzlicht. Im zweiten Versuch klappt es dann mit den Erinnerungsfotos.

Kerber bekam wenig geschenkt, fast jeder Ballwechsel in diesem Finale war ein kleines Drama

Dieses Finale gegen Pliskova, es war eine zwei Stunden dauernde Zusammenfassung von Kerbers Karriere: Sie hat als Kind nicht in den Schlangen angestanden, an deren Ende die Natur außergewöhnliches Ballgefühl, einen aufregenden Aufschlag oder einen besonders gefühlvollen Slice verteilte - sie holte sich lieber eine Extraportion Ehrgeiz ab. Sie hat sich eine erstaunliche Physis erarbeitet, dazu einen Umgang mit kniffligen Ballwechseln und ein Verständnis für die Situationen auf dem Platz - alles Fähigkeiten, die man nicht geschenkt bekommt, sondern sich über Jahre hinweg antrainieren muss.

Kerber hat Pliskova nicht vom Platz geprügelt, so wie es Graf häufig mit ihren Gegnerinnen getan hat. "Ich erinnere mich, dass ihre Partien immer ziemlich schnell vorbei waren", sagt sie und lächelt. Kerber bekam kaum etwas geschenkt in diesem Finale, fast jeder Ballwechsel war ein kleines Drama, und am Ende fügte sich alles zu einem packenden Spektakel mit fröhlichem Ende. "Der Matchball war der schönste Moment für mich heute", sagt sie: "Ich habe gleich realisiert, dass ich mich zurückgekämpft und das zweite Grand-Slam- Turnier meines Lebens gewonnen habe."

Später betritt die neue US-Open-Siegerin und Weltranglisten-Erste dann doch noch den Spielergarten. Sie lächelt, sie sieht aber auch müde aus am Ende dieses Tages. Sie will nicht mehr in einen Brunnen hüpfen, sie will auch nicht mehr unbedingt einen der Nachtklubs in Manhattan aufsuchen. Sie hat Hunger. Kerber beißt in das Schinkenbrot und freut sich, dass die Mutter an die sauren Pfirsichringe gedacht hat.

© SZ vom 12.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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