Alpine Ski-WM:Das Kollektiv der Rennsemmeln

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Kurzauftritt in den Dolomiten: Thomas Dreßen belegt im Februar 2021 auf der WM-Abfahrt in Cortina d'Ampezzo Rang 18. Kurz darauf muss er sich wieder einer Knieoperation unterziehen. (Foto: Michael Kappeler/dpa)

Skifahren ist ein Mannschaftssport - bis auf die zwei Minuten eines Rennens: Dieses Leitmotiv ist für die deutschen Speed-Fahrer auch in Cortina d'Ampezzo wieder die wichtigste Kraftzelle. Wie das in der Praxis aussieht? Ein Streifzug durch die ersten WM-Tage.

Von Johannes Knuth, Cortina d'Ampezzo

Was ihm binnen eines Tages auf einer Abfahrt widerfuhr, hat der ehemalige Skirennläufer Marco Büchel einmal gesagt, erlebe er im normalen Leben nicht in einem Jahr. Vielleicht ist das ein Grund, weshalb manche Ex-Profis schon kurz nach ihren Karrieren gerne mal Autobiografien vorlegen; eine neue stammt von Aksel Lund Svindal, 38, dem einstigen Elder Statesman des Sports, seit zwei Jahren Rennfahrer-Pensionär. Der Norweger führt darin etwa aus, wie knapp er nach seinem gruseligen Sturz 2007 in Beaver Creek am Tod vorbeirauschte, wie er die Reporter später zu einem Gespräch lud, das er spontan an die frische Luft verlegte - so hörte man beim Spazierengehen nicht das Geräusch des künstlichen Darmausgangs, den sie ihm damals gelegt hatten.

Ein Motiv schimmert bei Svindal immer wieder durch: Die Gemeinheiten seines Sports lassen sich leichter ertragen, wenn man sie verteilt, auf viele Schultern von Betreuern und Teamkollegen. Wer seine Mannschaft nicht für das wichtigste Gut überhaupt erachte, schreibt Svindal, sollte sich sein Umfeld sehr genau und kritisch anschauen.

Beim Deutschen Skiverband (DSV) dürfte ihnen diese Aussicht gerade ganz gut gefallen, in den ersten Tagen der WM in Cortina d'Ampezzo. Das ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass ihre Schnellfahrer vor sieben Jahren noch so überfordert waren, dass sie im Verband zumindest überlegten, der Speed-Gruppe die Fördermittel zu kappen. Der Österreicher Mathias Berthold übernahm dann als Cheftrainer, sein Landsmann Christian Schwaiger wurde zu den Abfahrer versetzt, ehe Schwaiger vor zwei Jahren Berthold ablöste. Die neuen Vorgesetzten kultivierten damals einen Leitgedanken, den Svindals Norweger schon seit Jahren predigten: Das alpine Skifahren, bei dem Athleten immer früher und individueller angeleitet werden, funktioniere am besten als Teamsport - bis auf die zwei Minuten eines Rennens. Es ist ein Gedanke, der auch bei dieser WM wieder aufblüht, man sieht das an vielen Episoden: an Romed Baumann, dem sie in Österreich keine Chance mehr gaben, ehe er jetzt Silber im Super-G für den DSV gewann; an den Teamkollegen, die am Sonntag in der Abfahrt ihre nächste Chance haben; an Kira Weidle, die sich bei ihrer Abfahrt am Samstag auch was ausrechnet, dabei kommt die 24-Jährige gerade ja nicht wirklich in diesen Vorzug: von einem großen Kollektiv getragen zu werden.

Genüsslich durch die fiesen Kurven

Thomas Dreßen ist seinen Bürgerpflichten zuletzt gewissenhaft nachgekommen, sagt er, nicht ein Skirennen habe er verpasst, während er sich zuletzt im Krankenstand befand. Und selbstredend habe er seine Teamkollegen ordnungsgemäß angefeuert, nicht nur des Betriebsklimas wegen: "Je stärker die anderen sind", sagt Dreßen, desto stärker sei er bei seiner Rückkehr schon im Training gefordert, und desto eher wisse er, wie weit es noch bis zur Weltspitze sei. "Ein Riesenvorteil", sagt der 27-Jährige.

Schon möglich, dass das ohne sein kollegiales Sicherheitsnetz nicht ganz so ruckelfrei verlaufen wäre: die Hüft-OP im November, an diesem Sonntag schon das Comeback, hoffentlich. Am Freitag steht Dreßen nach dem ersten Abfahrtstraining im Ziel, ein paar Kollegen sind jetzt auch Konkurrenten, hinter Baumann und Andreas Sander sind nur noch zwei Startplätze für die Abfahrt vakant: für Dominik Schwaiger, Simon Jocher, den WM-Debütanten, der im Super-G schon 16. wurde - und Dreßen. Alle Drei sprechen nach ihren Läufen auch über die scharfen Kurven im Kurs, die vereiteln sollen, dass die Fahrer zu flott an den mächtigen Vertigine-Sprung heranrauschen. Sinnvoll, "aber mit Abfahrt hat das nicht viel zu tun", sagt Schwaiger, "ein bescheidenes Gefühl", findet Jocher. Dreßen? Der lächelt, freilich, sagt er, "ein Kampf" sei das, aber wenn die Kurssetzung im letzten Probelauf am Samstag nicht geändert würde, "dann ist es so". Und seine Fahrt, ach ja, "das war noch nicht das Ende der Fahnenstange".

Wegzaubern der Ideallinie

Simon Jocher wird im Mai 25 Jahre alt, das ist kein Alter für einen Schnellfahrer, aber Jocher hat es bereits kennen gelernt, dieses Sportlerphänomen: "Im Training fährt bei uns jeder mal Bestzeiten", sagt er. Aber auch viele Abfahrer schaffen es meist nicht, ihre Form ins Rennen zu überführen, eine Ausnahme fährt in Jochers Team: "Der Thomas", sagt Jocher über den fünfmaligen Abfahrtssieger im Weltcup, "ist eine brutale Rennsemmel, der kann von Training auf Rennen so krass umschalten". Kann man das eigentlich lernen? Sich zur Rennsemmel ausbilden lassen?

Wenn man Dreßen nach einer Gebrauchsanleitung fragt, sagt er: "Du darfst ein Rennen nie schwerer reden, du musst es einfacher machen". Das habe er auch Jocher zuletzt erzählt. Zum Beispiel, dass es diese ominöse Ideallinie gar nicht gebe, nur den eigenen Plan, dem man nicht um eine Winzigkeit misstrauen dürfe. Und wenn man doch im Sommer seiner Zweifel schwitzt? "Manche sagen, ich würde vor jedem Rennen gleich wirken", sagt Dreßen, "das ist aber nur nach außen so." Wenn er zweifle, "rede ich mir solange Sachen ein, bis ich glaube, dass sie wirklich gehen." Wie: "Das ist nur ein Rennen. Nur Skifahren." Es gab schon Matchpläne, die schlechter funktioniert haben.

Auf Augenhöhe

Einzelkämpferin: Kira Weidle zählt bei der Abfahrt am Samstag zum Kreis der Mitfavoriten. (Foto: Michael Kappeler/dpa)

Kira Weidle dürfte sich auch in Cortina gerade ein wenig so fühlen, als arbeite ihr ein exklusives Privatteam zu, mit eigenem Trainer, Physiotherapeutin, Materialtüftlern. Weidles Teamkolleginnen im Speed-Team sind derzeit ja alle verletzt entschuldigt, Meike Pfister, Patrizia Dorsch, Michaela Wenig. "Mit den Betreuern versteh ich mich ganz gut, von daher ist es nicht ganz so schlimm", sagt Weidle. Aber Jürgen Graller, der Cheftrainer der DSV-Frauen, weiß schon auch: "Ein Betreuer ist einfach kein Rennkollege, mit dem man sich noch mal ganz anders austauschen kann."

Graller hat oft erlebt, dass sich die richtige Bogenspannung besser aufbaut, wenn es auch Raum zur Entspannung gibt. Er hat einmal erzählt, dass ihm seine Mannschaft nach seinem ersten Winter im DSV einen Bonsai-Baum geschenkt hat, die Idee dahinter war die: Wenn er nach einem Rennen wütend sei, fahre er oft erst einmal in den Wald und schreie einen Baum an, nicht seine Fahrerinnen. Sein Team habe sich irgendwann gedacht, es sei doch praktisch, wenn Graller immer ein Bäumchen dabeihabe, zum Anschreien to go. Und warum einen Bonsai? Naja, hätten ihm seine Fahrerinnen gesagt: Das Gewächs sei halt auf Grallers Augenhöhe.

Auf der Suche nach dem Sog

Bei einer WM geht es ja nicht nur ums Jetzt, um die Medaillen, es zeigt sich auch schon, was zuvor war und bald sein wird. So gesehen wissen sie im DSV, dass das natürlich nicht ganz so lustig aussieht: eine Schnellfahrerin im Aufgebot, dazu Lena Dürr und Andrea Filser für die Technik-Wettbewerbe. Jürgen Graller, der Cheftrainer, kennt die Wortmeldungen: Warum habe er für diese WM nicht ein paar Junge verpflichtet, die in Weidles Schatten lernen können? So wie Weidle, die einst im Sog von Viktoria Rebensburg mitschwamm, ehe sie die Olympiasiegerin überholte, zumindest auf der Abfahrt? Ganz einfach, sagt Graller: "Man muss auch schauen, was realistisch ist." Wer noch nicht bereit sei für eine WM, für den wachse sich die Chance schnell zur Last aus. Die junge Garde, die er derzeit anleite, wolle er lieber in Ruhe für die nächste WM ausbilden, vielleicht auch erst für die übernächste. Verletzte Begabungen, sagt Graller, habe man derzeit ja schon genug.

Die Sprache des Abfahrers

"Nicht so unerfolgreich": Romed Baumann präsentiert seine WM-Silbermedaille vom Super-G in Cortina - sein bislang größter Erfolg. (Foto: Marco Tacca/AP)

Als Romed Baumann vor zwei Jahren aus Österreich zum DSV wechselte, als völlig verunsicherter Rennfahrer, begriffen sie rasch, welch Schatz an Wissen ihnen da in die Hände gefallen war. "Der Romed", sagt sein Cheftrainer Christian Schwaiger, "der kennt alle Abfahrten in- und auswendig. Von dem kann ein jeder Junger lernen", welche Passage sich etwa mit Vollgas ansteuern lässt und, fast noch wichtiger, welche eher nicht. Die Trainer, sagt Schwaiger, er selbst und Andreas Evers also, der vor zwei Jahren die Speed-Gruppe von Schwaiger übernahm, könnten dieses Wissen schon auch vermitteln. Aber ein Athlet, sagt Schwaiger, spreche anders, er könne eine Anweisung in ein Gefühl übersetzen, das nur ein Athlet verstehe, da schwinge viel mit - auch eine Gelassenheit, die Baumann ausstrahle und die manchem Grübler im Team sehr geholfen habe.

Und selbst wenn es am Sonntag nicht klappen sollte mit der nächsten Überraschung: Eine Medaille haben sie ja schon, nach Baumanns Coup am Donnerstag. "Das", hatte Andreas Sander danach gesagt, "ist auch eine Medaille für den ganzen DSV."

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