Alexander Zverev:Schläger heil, Barriere durchbrochen

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Der Hamburger löst seine mentalen Blockaden: Erstmals erreicht er ein Grand-Slam-Halbfinale. Nun erscheint für ihn vieles möglich.

Von Barbara Klimke, Melbourne

Am Ende hob er kurz den rechten Zeigefinger, lächelte und schickte einen Blick auf die Tribüne, wo der Vater, die Freundin, der Sparringspartner und der Fitnesscoach zusammensaßen. Dann zog er langsam das Stirnband aus dem Haar, ging zum Handschlag mit dem Gegner Stan Wawrinka ans Netz und trat ans Stadionmikrofon. "Sie können sich nicht vorstellen, was mir das bedeutet!", sagte Alexander Zverev, sichtlich bewegt, ins weite Rund. Sein Vater Alexander Zverev senior, der auch sein Trainer ist, wischte sich in der Spielerbox über die Augen. Aber es konnte auch ein Staubkorn gewesen sein.

Womöglich war dies die größte Überraschung, zumindest aber ein kleines Steinchen im großen Mosaik des Erfolgs, dass Alexander Zverev, 22, nicht nur beim Matchball, als Wawrinka eine Vorhand verschlug, sondern während der gesamten Partie so ruhig und kontrolliert geblieben ist. Kein Gebrüll, kein Tänzchen, nicht einmal ein Kniefall. Und das von einem jungen Hitzkopf, der noch vor einem Jahr bei seiner Achtelfinal-Niederlage an gleicher Stelle seinen Schläger aus Wut mit gewaltigen Hieben in Trümmer zerlegt hatte.

18 vergebliche Anläufe für ein Halbfinale? "Ich habe es vielleicht zu sehr gewollt", gibt Zverev zu

"Vielleicht werde ich älter. Ich habe versucht, das zu ändern", sagte Zverev nach der Partie. Erstmals in seiner Karriere hat er sich bei den Australian Open in Melbourne in das Halbfinale eines Grand-Slam-Turniers durchgeschlagen, mit dem 1:6, 6:3, 6:4, 6:2-Sieg gegen den 34-jährigen Schweizer Wawrinka, den Turniersieger von 2014. Es fühlte sich an, als habe er "eine Barriere durchbrochen". Von einem Titeltriumph in der Rod-Laver-Arena ist Zverev zwar immer noch zwei Matches entfernt, und am Freitag wird er gegen den Österreicher Dominic Thiem, der den Weltranglistenersten Rafael Nadal bezwang, zunächst um den Einzug ins Finale spielen müssen. Aber nachdem er wie ein Bulldozer seine mentale Blockade fortgeräumt hat, erscheint wenig unmöglich.

Die staunenden Zuschauer im Rücken: Alexander Zverev auf dem Weg in sein erstes Grand-Slam-Halbfinale. (Foto: KAI PFAFFENBACH/REUTERS)

18 Anläufe hatte Zverev bei den Grand- Slam-Turnieren in Melbourne, Paris, Wimbledon und New York zuvor unternommen, immer, wenn es ernst wurde, stand er wie vor einer Wand. Als bestes Ergebnis wurde bislang das Viertelfinale in Roland Garros für ihn vermerkt, das er zweimal (2018, 2019) erreichte. "Ich habe es vielleicht zu sehr gewollt, ich habe es vielleicht zu professionell gemacht", glaubt Zverev nun. Er sei, sobald er sich auf seiner Mission wähnte, nicht mehr mit Freuden ausgegangen, habe keine Restaurants besucht, mit niemandem geredet. Es klingt, als seien die Grand Slams, der Goldstandard im Tennis, zur Obsession geworden.

Vielleicht wollte der Hochbegabte wirklich zu schnell zu viel. Zverev, der Ungeduldige, hat auf seinem recht kurzen Karriereweg eine beachtliche Kollektion an jenen Pokalen eingeheimst, die weniger mit Bedeutung aufgeladen sind als die Silberschüssel der Australian Open, die am Sonntag vergeben wird. Elf Titel auf der ATP-Tour stehen für ihn zu Buche, darunter der Sieg beim ATP-Finale 2018 in London. Zwischenzeitlich stieg er zur Nummer drei der Weltrangliste auf. Von da an galt er als gefährlichster Herausforderer des Tennis-Triumvirats: Roger Federer, 38, Rafael Nadal und Novak Djokovic, beide 32.

Doch statt die Großen Drei mit Schwung vom Sockel zu stoßen, wurde er häufig selbst aus dem Tableau katapultiert, vorigen Sommer in Wimbledon schon in Runde eins. Deshalb hält er auch wenig von oft gehörten Thesen, dass es die drei vermeintlich alten Männer sind, die der anstürmenden Jugend ständig die Tour vermasseln, als handle es sich um eine Tennisversion von Tolkiens "Der Herr der Ringe" mit dem weißbärtige Zauberer Gandalf und seinem Ruf: "Du kannst nicht vorbei!" Ein Mythos, wie Zverev erklärte: Denn so häufig habe er sich mit dem Trio bei den Grand Slams in Wahrheit gar nicht auseinandergesetzt. Er stand sich stattdessen eher selbst im Weg. Nach Wimbledon, dem Tiefpunkt im letzten Jahr, trennte er sich von seinem Trainer Ivan Lendl. Die privaten und beruflichen Probleme, über die er klagte, sind mittlerweile gelöst, auch wenn ihn der Rechtsstreit mit seinem früheren Manager Patricio Apey noch eine Weile beschäftigen dürfte.

Und so war es vielleicht ganz heilsam, dass er diesmal ohne Hoffnungen nach Melbourne kam. Zu Beginn des Jahres hatte er beim ATP-Cup in Brisbane "verheerend gespielt", wie er selbst sagte. Sein Zitteraufschlag wirkte beängstigend, er verlor alle drei Matches. Der Teamverantwortliche, Boris Becker, riet ihm dringend, seine Einstellung zu überdenken und sich schleunigst einen neuen Trainer zu suchen.

Zverev schlug alle guten Ratschläge in den Wind. "Es liegt nicht an meinem Team", sagte er: "Es liegt an mir." Nach der Erfahrung von Brisbane trainierte er wie nie zuvor, sagte er, manchmal sieben Stunden am Tag, bis er sich wieder sicher im Umgang mit dem Racket wähnte.

"Es liegt nicht an meinem Team. Es liegt an mir": Alexander Zverev. (Foto: Cameron Spencer/Getty Images)

Zwar lief auch das Match gegen den dreimaligen Grand-Slam-Sieger Wawrinka am Mittwoch zunächst nicht nach Plan. Sein Aufschlag ließ ihn anfangs im Stich, er verlor den ersten Satz schnell 1:6, weil Wawrinka sich keine Fehler leistete und die Bedingungen bei Temperaturen um 32 Grad ungewohnt für ihn waren. Doch er behielt die Nerven. Im zweiten Satz verbesserte sich sein Service, er gewann alle fünf Aufschlagspiele ohne Punktverlust und nutzte seine Chance zum Break zum 5:3. Als auch der dritte Satz gewonnen war, öffnete sich endlich, im 19. Anlauf, der Spalt zum Halbfinale.

Zverev hat anschließend seinem Vater gedankt, in einer burschikos-liebevollen Art, in der das nur ein Sohn kann: "Er ist einer von diesen normalen Trainern, die ihre Spieler nicht besonders mögen", erklärte er unter dem Gelächter des Publikums in der Arena. Dann wurde er ernst: "Er hat mich zu dem Tennisspieler gemacht, der ich bin." Und deshalb wird es auch keine Änderungen in seinem Betreuerteam geben. Wenn sein Vater ihm sage, er sei müde, "dann verstehe ich das, und wir holen Hilfe". Aber er sehe keinen Grund, zu radikalen Lösungen. Er glaube, dass sein Vater "für lange Zeit Teil meines Teams bleiben werde".

© SZ vom 30.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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