Berlin ist nicht Deutschland. Das kann man in Paris nicht oft genug sagen. Nein, diese Hauptstadt, die für Franzosen so attraktiv ist (nur die polnische Community in Berlin wächst schneller als die französische), hat rein gar nichts mit einem Land zu tun, das sie provinziell und langweilig finden und für das sie sich wenig interessieren.
Berlin, ja. Deutschland, nein. Was ich immer für eine französische Eigenart gehalten hatte, ist jedoch Wirklichkeit - das habe ich nach zwei Wochen Ferien auf einer ostfriesischen Insel verstanden. Berlin ist weit, sehr weit weg von den Stränden der Nordsee.
Wo ist das wahre Deutschland? Das habe ich mich oft gefragt. Das wahre Deutschland ist nicht Bayern, dieser Staat im Staate mit einer Sonderstellung. Thüringen, in der Mitte Deutschlands gelegen, war Teil der DDR und kann schon deshalb nicht Deutschland verkörpern. Und wie sollte das zerrissene verarmte Berlin Sprachrohr für das arbeitsame Stuttgart oder das wohlhabende Hamburg sein?
Auf meiner Insel aber habe ich einen repräsentativen Mikrokosmos gefunden, diese Mitte Deutschlands, um die alle politischen Parteien bis zum Herbst werben werden. Abgesehen vom italienischen Eisdielenbesitzer, von einigen Austauschschülern, von zwei deutsch-schweizerischen Familien und mir selbst, der einzigen an der Nordsee gestrandeten Französin, sind die Menschen zu hundert Prozent deutsch.
Hier werden alle Akzente aller Bundesländer gesprochen - doch kein einziger Türke, keine verschleierte Frau, keine farbige Haut. Selbst die Kutschenfahrer und die Obstverkäufer sind Deutsche. Die Kinder heißen Lasse, Fokko und Kea. Die Familien sind keine Patchworks, ihr Nachwuchs ist nicht übergewichtig und eher gut erzogen, und am Sonntag sind die kleinen Kirchen der Insel voll bis auf die letzte Bank. Diese brave Bevölkerung bewegt sich in einem Dekor der siebziger Jahre. Es ist, als ob das Deutschland von vor der Globalisierung, vor der Krise, in einem Glas mit Formaldehyd mitten in der Nordsee konserviert wurde. Dieser merkwürdige Ort erinnert in nichts an das liberale Berlin, das immer in Bewegung ist.
Hier findet man ein zuverlässiges Barometer, um die öffentliche Meinung zu messen. Die dicht aneinander gedrängten Strandkörbe bieten eine perfekte Beobachterplattform. In meinen kleinen Korb gekrümmt kann ich der Unterhaltung meiner Nachbarn lauschen, ohne dabei ertappt zu werden. Zu meiner Rechten: eine Mischung aus Schweinegrippe und Marienkäferplage an den Ostseestränden. Zu meiner Linken: der Dienstwagen von Ulla Schmidt.
Der große Publikumsliebling des Sommers ist aber, zweifelsohne, "Ka-Te" zu Guttenberg. Man liebt seinen energischen Auftritt, sein makelloses Englisch, das feuerrote Kleid seiner Frau in Bayreuth, seinen Widerstand gegen staatliche Hilfe für alle Firmen in Not... Erst als ein heftiger Schauer niedergeht, verstummen die Lobgesänge auf Guttenberg, und das Wetter wird wieder zum Topthema: die Wolken, die Windgeschwindigkeit, das Gewitterrisiko.
Ich kann nur allen Wahlkampfstrategen, PR-Männern und anderen Weissagern in diesem Wahljahr empfehlen, einen Strandkorb auf einer ostfriesischen Insel zu mieten. Was ist nur in Ulla Schmidt gefahren, sich mit ihrem Chauffeur und Dienstwagen an der Costa Brava ins Exil zu begeben? Der arme Frank-Walter Steinmeier könnte während des Frühsports am Strand wertvolle Stimmen sammeln. Ferien in der Heimat haben Konjunktur, das hört man doch überall.
Vier Berliner Auslandskorrespondenten schreiben an dieser Stelle jeden Samstag über Deutschland. Pascale Hugues arbeitet für das französische Nachrichtenmagazin Le Point.