Mein Deutschland:Der Wert des Streiks

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In Deutschland gilt der Streik als Übel, in Frankreich dagegen als positives Zeichen sozialer Dynamik - ein Ländervergleich.

Pascale Hugues

Kürzlich habe ich einen Nachmittag mit Zappen in einem Hamburger Hotelzimmer verbracht. Draußen regnete es in Strömen. Auf dem Bildschirm: Dallas in einem kleinen deutschen Familienbetrieb. Die Arbeiter sind mutig, der Werkmeister ist bissig, die Chefs sind herzlos, abgesehen vom reichen Sohn des Hauses, der sich in eine hübsche Angestellte verliebt hat. Plötzlich vibrieren die Geigen, die Spannung steigt, die Kamera bleibt auf dem bleichen Gesicht des Firmenpattriarchen stehen. Der Meister rennt herum. Ich halte die Luft an und erwarte das Schlimmste.

Segen oder Übel: Das Thema Streik sieht man in Deutschland und Frankreich unterschiedlich. (Foto: Foto: Robert Haas)

"Sie streiken" murmelt der Boss mit Grabesstimme. Schnitt. Vor dem Werk hält ein Dutzend Arbeiter ein paar Spruchbänder hoch. Die Werkbänke sind verlassen, die Geigen jammern. Hätte ich den Anfang des Films verpasst, würde ich jetzt erwarten, dass man gleich die letzten Überlebenden eines Atomkriegs entdecken wird. Aber nein! Es handelt sich nur um einen schüchternen Wutanfall, um einen Hauch sozialer Unruhe. Der böse Werkmeister droht denen, die nicht sofort an ihren Arbeitsplatz zurückkehren, mit dem Rauswurf. Alles kehrt zur alten Ordnung zurück, die Musik wird sanfter. Ich bin etwas frustriert. Und draußen regnet es noch immer.

Streik gilt hierzulande als Übel, als der schlimmste aller Albträume. Ich kam nach Deutschland, nachdem ich Mitte der 80er Jahre in England über die Bergarbeiterstreiks geschrieben und das letzte große soziale Epos des Jahrhunderts erlebt hatte: monatelange Streikposten, Arthur Scargill, den bissigen Gewerkschaftsboss. Diese Arbeiterkultur hatte mich fasziniert. Hier aber fand ich mich auf einem anderen Planeten wider. Man sprach nur von "Konfliktpartnerschaft" und "sozialer Harmonie". Ich entdeckte die vielen subtilen Strategien, mit denen Konflikte entschärft werden. Wenn ich eine Reportage über eine deutsche Firma schreibe, frage ich immer zum Spaß, wie oft hier gestreikt werde. "Aber nie Madame", heißt es dann triumphierend - nicht nur seitens der Geschäftsführung, sondern auch des Betriebsrats und der Gewerkschaftsvertreter.

Für eine Französin ist ein Gewerkschafter, der nie einen Streik organisiert hat, kein echter Gewerkschafter. In den Schulen der Republik loben die Lehrer die Französische Revolution und die großen sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts. Der Protest wird bei uns als positives Zeichen sozialer Dynamik, als Zeichen von Zivilcourage unterrichtet, als Gegensatz zu Feigheit und Resignation. Proteste haben uns mehr soziale Gerechtigkeit gebracht, das Ende der Kolonialisierung, und eine willkommene Freiheit in das stickige Frankreich der 60er Jahre. Es heißt oft, Frankreich sei ein Land am Rande der Anarchie. Doch letztlich sind die Pflastersteine, die Barrikaden, der Maiglöckchenstengel im Knopfloch am 1.Mai Teil der Folklore, und all das ist so herrlich französisch.

Im Übrigen schien es, als ob die französischen Medien fast enttäuscht waren, als sie vergangene Woche eine niedrige Beteiligung an den traditionellen Umzügen des 1. Mai vermelden mussten. Der Mangel an sozialer Unruhe gilt in Frankreich als ungesund. In Deutschland dagegen ist man beruhigt, wenn keiner muckt. Als Gesine Schwan es gewagt hatte, zu warnen, dass die Krise eine explosive Stimmung erzeugen könne, wurde sie beschimpft. "Saudummes Dahergerede", "äußerst schädlich", "unverantwortlich" hieß es. Die Heftigkeit dieser unverhältnismäßigen Reaktionen spiegelt eine irrationale Angst in diesem Land wider.

Vier Berliner Auslandskorrespondenten schreiben an dieser Stelle jeden Samstag über Deutschland. Pascale Hugues arbeitet für das französische Nachrichtenmagazin Le Point.

© SZ vom 09.05.2009/sus - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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