09. Juli 2009:Glauben Sie, ich hätte Zeit, den Kram zu lesen?

Lesezeit: 4 min

Bundestag und Bundesrat haben sich selten für EU-Politik interessiert - jetzt werden sie dazu gezwungen. SZ-Leser diskutieren über das BVG-Urteil zum Lissabon-Vertrag.

Zum Karlsruher Urteil über den Lissabon-Vertrag (" Europäische Sternstunde", 1. Juli und " Das wäre das Ende der EU", 7. Juli) sowie zu "Europa braucht neuen Chefdiplomaten" (6. Juli):

Berlin oder Brüssel: Wo wird in Zukunft Europas Politik gemacht? (Foto: Foto: ap)

"Zu Recht lobt Herr Prantl zwar dieses Urteil, schließt jedoch in dieses Lob alle diejenigen ein, deren 'Klage dieses Urteil erst möglich machte', also unter anderen Herrn Gauweiler und die führenden Herren der Partei 'Die Linke'. Ist das gerechtfertigt? Ich glaube kaum.

Herr Prantl übersieht, dass der wesentliche Inhalt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Abweisung der Klagen der genannten Herren ist, die den Vertrag von Lissabon für mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, also für verfassungswidrig erklärt haben wollten. Diesen Versuch, die Einigung Europas zu stören, der sich in eine Reihe stellt mit den Aktivitäten der Herren Klaus und Kaczynski, dem tschechischen und dem polnischen Staatspräsidenten, hat das Gericht mit klaren Worten zurückgewiesen. Der Vertrag von Lissabon ist verfassungskonform - das ist der entscheidende Tenor des Urteils. Hätte dieses Ergebnis nicht von Herrn Prantl in den Vordergrund seines Artikels gestellt werden müssen? Ein Lob für die Gegner der europäischen Einigung ist somit keineswegs angebracht!

Das Bundesverfassungsgericht greift lediglich das 'Begleitgesetz' an, das seiner Ansicht nach für Bundestag und Bundesrat zu wenig Beteiligungsrechte an dem europäischen Rechtsetzungsprozess vorsieht. Damit geht es bei der Auseinandersetzung also allein um innerdeutsche, nicht um europäische Fragen. Wir haben uns als deutsche EU-Beamte in der Kommission stets ein stärkeres Interesse des deutschen Gesetzgebers an unserer Arbeit gewünscht:

Eine solche Zusammenarbeit war - das übersieht Herr Prantl - von Anfang an vorgesehen: Bereits das Ratifizierungsgesetz vom 25. März 1957 zum EWG-Vertrag verpflichtete die Bundesregierung, 'alle direkte Wirkungen entfaltende oder zum Erlass deutscher Gesetze führende Rechtsakte der EWG vor Zustimmung im Rat dem Bundestag und dem Bundesrat zur Beurteilung vorzulegen'.

Das ist stets geschehen. Auf meine wiederholten Hinweise bei Bundestagsabgeordneten, mit denen ich dienstlich zusammentraf, sie seien doch dadurch über alles unterrichtet und könnten, was wir sehr erhofften, ihren Einfluss geltend machen, erhielt ich zur Antwort: 'Glauben Sie, ich hätte Zeit, diesen ganzen Kram zu lesen?' Wenn dann der Ministerrat mit Zustimmung der Bundesregierung eine um die andere Richtlinie verabschiedete - ich selber habe im Rat in den drei Jahrzehnten meiner Tätigkeit 14 Richtlinien auf dem Gebiet der Rechtsangleichung vertreten, darunter solche bedeutenden wie die Produkthaftungsrichtlinie 1985 -, war das Erstaunen in den diesen Vorhaben nicht wohl gesonnenen politischen Kreisen groß.

Wenn jetzt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts dazu führt, dass - wie Herr Prantl schreibt - 'der Dialog zwischen Bundestag und Brüssel in Gang kommt' und damit die europäische Integration mehr in das aktuelle Bewusstsein deutscher Politiker dringt, denen die Vertretung des Volkes anvertraut ist, so wäre dies in der Tat eine 'europäische Sternstunde', auf die wir seit langem gehofft haben."

Prof. Dr. Hans Claudius Taschner Tervuren, Belgien

Störfeuer aus Brüssel

"Im Streit um das Begleitgesetz kämpfen die EU-Parlamentarier Ferber, Posselt und andere vor allem um ihre eigenen Interessen. Das Bundesverfassungsgericht hat soeben dem EU-Parlament ein 'unheilbares' Demokratiedefizit bescheinigt und deutlich mehr Mitwirkungsrechte von Bundestag und Bundesrat verlangt.

Je stärker diese Rechte 'in dem von Verfassung wegen erforderlichen Umfang' laut Verfassungsgericht auszugestalten sind, desto geringer wird zwangsläufig der Spielraum der EU-Abgeordneten ausfallen. Auch Bundeskanzlerin Merkel, die jenseits der Parlamente und ohne jede Mitsprache der Bürger den Lissabon-Vertrag aushandeln ließ, muss die restriktive Deutung des Vertrags durch Karlsruhe und damit Einbußen an Handlungsspielraum hinnehmen. Unabhängig vom Störfeuer aus Brüssel und ohne inakzeptablen Zeitdruck seitens der Bundeskanzlerin muss ein neues Begleitgesetz verhindern, dass sich Brüssel und die Berliner Exekutive der Kontrolle von Bundestag und Bundesrat weitgehend entziehen können."

Dr. Eva Plickert München

Kommissar Steinmeier

"Martin Winter spekuliert über Frank-Walter Steinmeier als Nachfolger Javier Solanas. Statt als Hoher Repräsentant des Rats böte sich für den Noch-Außenminister aber ein anderer Posten in Brüssel an: Steinmeier wäre der perfekte Kommissar der Europäischen Union! Natürlich kann weder er noch die Kanzlerin dies derzeit offen sagen; die sich abzeichnende Wahlniederlage muss erst noch durchgestanden werden. Aber nachdem soeben die Nominierung selbst des Kommissionspräsidenten auf den Herbst verschoben wurde, kann Deutschland mit seinem offiziellen Kommissionsvorschlag unbeschadet bis nach der Bundestagswahl warten.

Frank-Walter Steinmeier bringt die besten Qualifikationen für den Kommissionsjob mit: Als Außenminister kennt er und kennt ihn die halbe Welt; er hat Erfahrung mit komplexen Politikfeldern und -knäueln; er kann eine Administration effizient führen; er ist belastbar und durchsetzungsfähig. Mit seiner Nominierung würde endlich auch einmal der immer grimmig blickende Chef der deutschen Sozialdemokraten im Europäischen Parlament lächeln."

Axel R. Bunz Herrsching

Die Keule in der Hinterhand

"Schade dass Herr Winter den eigentlichen Schwachpunkt der Argumentation der Beteiligten politischen Akteure ebensowenig erkannt hat wie diese selbst, und damit auch den Kern der richterlichen Entscheidung übersieht:

Wenn die Struktur der EU nach dem Lissabon-Vertrag nur funktioniert, wenn das deutsche Parlament sich größtenteils aus Entscheidungsprozessen heraushalten muss, so widerspricht dies natürlich dem Grundgesetz. Das Legitimationsdefizit von legislativ tätigen Exekutivgremien sind ja bei weitem keine Neuigkeit, ebensowenig wie die - 1989 gerne übergangene - Gelegenheit und Möglichkeit, das Grundgesetz durch eine 'moderne' Verfassung zu ersetzen.

Man sollte sich vielleicht anstatt zu Zetern besser die Frage stellen, ob das BVerfG den Vertrag auch so kritisch sähe, wenn die Gesetzgebungskompetenz von einem demokratisch gewählten Parlament an ein anderes übertragen würde, anstatt systematisch von Regierungshinterzimmern aus zu einem Genehmigungszwang für den Bundestag konstruiert zu werden, mit der Keule des Vertragsbruches in der Hinterhand."

Michael Schweiger Augsburg

© SZ vom 09.07.2009/dab - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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