Zelten in den Rocky Mountains:Die Wonnen des Eises

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Colorado - eintauchen in eine Welt aus Schnee und Kälte. Am eindrucksvollsten geht dies beim Zelten unter freiem Himmel in den Rocky Mountains.

Birgit Lutz-Temsch

Es schneit im Zelt. Die Stoffbahnen glitzern weiß im fahlen Schein der Stirnlampe. Jetzt ist die Nacht am tiefsten. Das Zelt innen angefroren. Von der Eiskristallschicht rieselt es auf die Schlafsäcke.

Platz ist in der kleinsten Hütte. Hauptsache, sie ist beheizbar. (Foto: Foto: bilu)

Kalt ist es, trotz der Woll-Wäsche, der Fleece-Jacke, trotz Mütze und Handschuhen, trotz des Daunenschlafsack-Ungetüms, dessen Komfort-Bereich bis minus 15 Grad reicht. Kalt in den Knochen, im Kopf. So muss sich ein Hähnchen fühlen, steifgefroren in der Tiefkühltruhe.

Wir liegen mitten in den Rocky Mountains. Auf 3400 Metern Höhe. Und tun das, was für viele Bergbewohner hier so normal ist wie für uns ein Wochenende am Gardasee: zelten.

Nicht die Kälte war der Grund für das Aufwachen. Sondern ein dringendes Bedürfnis. Die Uhr zeigt kurz nach Mitternacht. Der Morgen, so fern. Im Kopf hallt die warnende Stimme einer erfahreneren Snowcamperin wider: "Alles, was dein Körper warm halten muss, nimmt dir Energie weg und du frierst. Deshalb musst du alles Überflüssige sofort loswerden."

Also raus aus dem Daunenschlafsack. Eine Kälte-Keule trifft den woll-umwickelten Körper, als sei er nackt in einen Gletschersee gefallen. Es ist so kalt, dass die Zähne nicht mehr klappern können. Daunenhose, Ski-Anorak und Daunenjacke - ohne sie ist an ein Verlassen des Zeltes nicht zu denken.

Grazil wie eine Tochter des Yeti wälzt man sich in dieser Vermummung aus der Iglu-Öffnung. Der Schnee auf der Lichtung glitzert im kalten Mondschein. Er quietscht unter den Sohlen.

Schnell ins Gebüsch, schnell wieder ins Zelt. Jetzt noch ein bisschen "Gorp" essen - "good old raisins and peanuts", ein gehaltvolles Studentenfutter de Luxe. Das feuert den Stoffwechsel an wie eine paar Schaufeln Kohle den Kessel einer Dampflok. Der Körper wird wärmer. Der Schlaf kommt zurück.

Ich und der Biwak-Sack

Nach dieser Kälte-Erfahrung, so empfindet man das am nächsten Morgen, als die Sonne gnädig die kleine Stoffkuppel wärmt, kann man nie wieder frieren. Groß ist der Respekt vor den Menschen, die sich weitaus höher wagen, mit nichts mehr als einem Biwak-Sack. Aber trotzdem ist man auch auf sich selbst ziemlich stolz, dass man sie eine Nacht lang bezwungen hat, die Kälte im Schnee.

Ein bisschen Morgengymnastik und ein paar Schlucke heißen Tees später fließt das Blut auch wieder durch die Fingerspitzen, und das Leben ist großartig.

Diane und Todd, die beiden Outdoor-Freaks aus Colorado, die uns auf diese Tour mitgenommen haben, haben ein schlechtes Gewissen. Snowcampen in den Rocky Mountains sei im Herbst und Frühjahr am schönsten, "weil es dann schön warm ist", haben sie erzählt.

Aber der "reality check" hat gezeigt: Auch dann können die Temperaturen noch unter 15 Grad Minus sinken. Das hält viele vom winterlichen Campieren ab - und beschert denen, die es trotzdem wagen, ein unvergessliches Erlebnis. Denn jährlich kommen fast dreieinhalb Millionen Besucher in den Nationalpark - mehr als die Hälfte davon allein im Juni, Juli und August.

Im Winter dagegen geht kaum einer in die Berge und Wälder des Parks. Auf den Zeltplätzen ist man fast immer allein. So wie auf dem Platz im Goblin's Forest, der am Wanderweg hinauf zum Longs Peak liegt.

In der Eiswand. Drei Punkte müssen immer an der Wand sein. (Foto: Foto: bilu)

Ungefähr zwei Stunden hat das Stapfen in den Schneeschuhen mit Rucksäcken und Materialschlitten gedauert, dann war Goblin's Forest erreicht - nichts weiter als ein in der Karte eingezeichnetes Areal:

Keine Waschräume, kein Supermarkt, keine Steckdosen oder Stellplätze gibt es hier. Nur Natur.

Die Maxime im Park lautet: Leave no trace, hinterlasse keine Spuren - was auch bedeutet, dass man kein Toilettenpapier verwenden darf, sondern sich mit Schnee begnügen muss.

Der Körper - noch nicht akklimatisiert

Ein einfaches Schild mit der Aufschrift "Camping Area" hat den Zeltplatz in der tief verschneiten Berglandschaft angekündigt - ein hochwillkommenes Zeichen, dass das atemraubende Bergauf-Steigen ein Ende hatte.

Der Körper ist am zweiten Tag oberhalb von 3000 Metern Höhe noch lange nicht akklimatisiert, der Kopf dröhnt von der Anstrengung. Ein Problem, das die meisten Urlauber hier haben.

Die Ranger im Beaver Meadows Visitor Center, die die Genehmigungen für Wandern und Campen vergeben, kennen das. "Nicht weit von hier wird das Land wirklich flach, wenn ihr versteht, was ich meine", sagt Ranger Paul, und wiegt den Kopf hin und her. "Die Leute fliegen von Seehöhe hierher und denken, sie könnten sofort zu einer Fünf-Meilen-Skitour aufbrechen."

Der größte Teil des Parks liegt allerdings höher als 3000 Meter. Hinzu kommt, dass die Rocky Mountains mehr als 1000 Kilometer entfernt vom Meer liegen. Deswegen ist die Luft sehr trocken, was gut für den Pulverschnee, aber eine weitere Belastung für den menschlichen Organismus ist.

"Die größten Gefahren hier sind nicht die Bären oder Pumas, sondern die Höhe und das Wetter", sagt Paul. Einmal, so erzählt er, sei eine Gruppe von Studenten aus San Francisco gekommen, ohne Schneeschuhe oder Ski, und habe sich für eine vier Meilen lange Wanderung angemeldet. "Wir haben ihnen gesagt, hey, ihr seid nicht genügend ausgerüstet, aber sie wollten nicht auf uns hören."

Die Gruppe meldete sich nicht zurück und die Ranger mussten mit dem Helikopter nach den Abenteurern suchen. "Die haben sich vielleicht gefreut, als sie uns gesehen haben", sagt Paul, "aber wir haben sie nicht mitgenommen - wir haben ihnen Schneeschuhe runtergeworfen und gesagt, so, jetzt lauft mal schön brav zurück."

Der massige Körper Pauls bebt vor Schadenfreude, als er diese Episode erzählt. "Dieser Nationalpark ist kein Vergnügungspark", fügt er aber schnell erklärend hinzu. "Wir werden uns hüten, die Leute bei jeder Kleinigkeit mit dem Heli abzuholen - sie sollen lernen, sich in der Natur verantwortungsvoll zu verhalten."

Wenig Service, aber viele Tiere

Im ein paar Stunden entfernten Aspen bietet "Aspen Oxygen" Sauerstoff-Behandlungen für betuchte Lifestyle-Urlauber an - 150 Dollar pro Tank. Mit solch einem Service ist im Nationalpark nicht zu rechnen.

Dafür aber mit Tieren: Unzählige Spuren und schließlich sogar einen Elch sehen wir beim Aufstieg zu Goblin's Forest.

Mit der anstrengenden Wanderung zum Campingplatz ist das Tagwerk eines Snowcampers aber noch lange nicht beendet: Die Zelte müssen halb eingegraben werden, als Kälte- und Windschutz. Mehr als ein paar Schaufeln hintereinander sind nicht möglich - die Lungen saugen pfeifend die Luft ein. "Viel trinken", ermahnen einen die Rocky-Bewohner alle paar Minuten.

Neben den Zelt-Gruben entsteht eine Souterrain-Küche. Aus der lugen schließlich nur noch vier Köpfe heraus, der Schnee schmilzt kiloweise über dem Kocher, Bergsteigernahrung quillt in den Alu-Tüten zu Spaghetti Bolognese. Stille legt sich über die Lichtung.

Der Lohn des Tages: Ruhe, Einsamkeit, Natur. Wenn die Sonne verschwindet, endet der Nachmittag in der Schnee-Lounge. Snowcamping-Tage sind kurz.

Ein paar hundert Winter-Camp-Genehmigungen vergeben die Ranger jedes Jahr. Denn in den Rocky Mountains gibt es so gut wie keine Hütten. Wer mehr als eine Tagestour machen will, muss zelten. Eine Ausnahme ist das "San Juan Hut System" in den südlichen Ausläufern der Rocky Mountains, den San Juan Mountains.

Diese insgesamt fünf Hütten liegen in der Mount Sneffels Range, dem Gebirgszug entlang des 4312 Meter hohen Mount Sneffels zwischen Telluride und Ouray.

Seltsame Schreie, halb menschlich, halb tierisch, wecken die Hüttenbewohner. "Das sind nur Kojoten", kommt es aus Dianes Koje. Das klingt kaum beruhigend, zumal man die aus papierdünnen Sperrholzplatten bestehende Tür der winzigen Blue Lakes Hut noch nicht einmal von innen abschließen kann. Stabiler als die Zeltwände der Nächte zuvor ist sie zwar - weniger abenteuerlich ist diese Tour aber nicht.

Bisschen mehr als ein Spaziergang

Der Hütten-Eigentümer Joe Ryan in Telluride muss Schnee-Schuh-Sprinter sein, denn er schätzt die Gehzeit bis zur Blue Lakes Hut auf gerade mal zwei Stunden. "Das ist ein bisschen mehr als ein Spaziergang", sagt er bei der Schlüsselübergabe. Aber die Sonne scheint, als läge der Weg nicht in Colorado, sondern in Florida, der Schnee reflektiert die Strahlung, es ist ungewöhnlich heiß.

Kurzärmlig, mit dicken Schichten Sonnencreme auf Armen und Gesicht geht es den Weg entlang, schwer bepackt, immer den Mount Sneffels vor Augen, eine gigantische Kulisse.

Nur einen einzigen anderen Menschen treffen wir an diesem Tag, er überholt uns auf Tourenski und hat seltsamerweise eine durchlöcherte Metalltonne auf den Rücken geschnallt.

Die genaue Funktion dieser Tonne sollten wir noch kennen lernen. 5,2 Meilen, also etwa achteinhalb Kilometer lang ist der Weg zur Blue Lakes Hut - und auf der gesamten Strecke gibt es nicht eine einzige Markierung. Eine harte Umstellung für europäische Wanderer, die an die Alpenvereins-Wegepflege gewöhnt sind.

Um die Hütte zu finden, braucht man Glück, denn sie ist so verschneit, dass man sie selbst dann nicht sehen kann, wenn man schon fast vor ihr steht.

Ein Freilichtklo

Die Ausstattung ist genauso, wie sie Joe beschrieben hat: "Basic". Stockbetten rechts und links und ein Holzofen in der Mitte. 50 Meter entfernt, in einem kleinen Waldstück, entdecken wir die Tonne, hier "crapper barrel" genannt: ein Freiluft-Klo, bestehend aus einem Holzgestell, auf das ein Toilettensitz genagelt ist, darunter steht die Tonne.

Bei der Auswahl des Platzes, so scheint es, hat Joe vor allem auf den Panorama- Blick geachtet, der sich von diesem Open-air-Thron auf den Mount Sneffels bietet.

In der Hütte: kuschelige Wärme, sobald genügend Holz für den Ofen in der Raummitte gehackt ist, und ein Feuer vor sich hin knackt. Von der Blue Lakes Hut sind kleine Ski-Touren möglich.

Auf den tief verschneiten Hängen reicht der Pulverschnee bis zu den Hüften, und wenn man eine Hand voll der weißen Masse nimmt und hinein lässt, fliegen die Flöckchen auseinander wie die Samen einer Pusteblume, so leicht, so locker. Sogar Anfänger bekommen hier ganz ordentliche Tiefschnee-Schwünge hin.

Die ganze Tour bis nach Ouray dauert fünf bis sechs Tage. Dort warten heiße Quellen auf die geschundenen Muskeln. Zu lang sollte man sich darin aber nicht ausruhen: In Ouray ist eine einzigartige Eiskletter-Anlage mit mehr als 50 Touren in verschiedenen Schwierigkeitsgraden entstanden.

Mit dem Pickel ins Eis

Der Pickel saust durch die Luft, bohrt sich ins Eis, dass es nur so spritzt. Der Schlag hat gesessen, der Pickel hält. Das ist wichtig, 25 Meter hoch über dem Boden, wenn das Leben an einem Seil hängt. Man muss beim Eisklettern darauf vertrauen, dass keine Eisplatten unter dem eingeschlagenen Pickel wegbrechen; dass die in die Oberfläche gebohrten Steigeisen das Gewicht aushalten, und darauf, dass das Seil im Notfall hält.

In der engen Schlucht ist es kalt. Der Benzinkocher spuckt und hustet schon wieder, um Schnee für heiße Getränke zu schmelzen. Autark zu sein, das haben wir in den vergangenen Wochen so zu schätzen gelernt, dass wir den Kocher gar nicht mehr aus unserem Gepäck nehmen wollen, genauso wie die derben Bergschuhe, an die die Steigeisen geschnallt sind, die dicken Daunenklamotten, die Fleecejacken und Gamaschen, damit kein Schnee in die Schuhe fällt - diese Ausrüstung wird langsam zu einem Teil von uns.

Die Felswände, die aussehen, als seien sie mit blauer Gletschereis-Bonbon-Masse überzogen, strahlen eine tiefe Kälte ab, die sich bis in die Knochen gräbt. Wenn man in der Wand hängt, ist es warm. Heiß sogar.

An zwei Pickeln und den Spitzen der Steigeisen hängt der Körper in der Eiswand. "Drei Punkte müssen immer an der Wand sein", erklärt Diane. 30 Meter sind auf diese Weise nach oben geschafft, langsam und stetig, und Diane, die unten sichert, sieht nur noch aus wie ein kleiner bunter Fleck im Schnee.

"So, und jetzt kommt das Abseilen", ruft sie herauf "stoß dich ab und lass dich einfach ins Seil fallen!" Adrenalin schießt ins Blut, ja, es geht noch mehr, und dann kommt das Fallenlassen, draußen, im Eis.

Informationen

Anreise: Mit Lufthansa von vielen deutschen Flughäfen nach Denver ab 745 Euro inclusive Steuern und Gebühren.

Zelten: Für die Campingplätze im Rocky Mountain Nationalpark sind im Winter kostenlose Genehmigungen erforderlich.

Informationen hierzu bei: Rocky Mountain National Park, Estes Park, CO 80517, Tel. 001-970-586-1206 oder unter www.rocky.mountain.national-park.com.

Hüttentour: Übernachtung 25 Dollar, San Juan Hut System, Joe Ryan, P.O. Box 773, Ridgway, CO 81432, Tel. 001-970626-3033, www.sanjuanhuts.com.

Eisklettern: Klettern im Ouray Ice Park ist kostenlos, www.ourayicepark.com

Übernachtung: Cabins im Riverside Inn and Cabins, PO Box 342, Ouray Colorado 81427, Tel. 970-325-4061 ab 33 Euro.

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