Stadtrundgang durch Krakau:Das Paris an der Weichsel

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". . . der Blick von oben hat etwas von einer Beichte, die Stadt gesteht ihre kleinen Sünden", sagt der polnische Dichter Adam Zagajewski, mit dem man gemeinsam durch Krakau schlendert.

Hilmar Klute

. . . der Blick von oben hat etwas von einer Beichte, die Stadt gesteht ihre kleinen Sünden - aber nicht die schweren wirklichen Sünden, diese muß man woanders suchen, im Gedächtnis und im Vergessen.

Die Markthallen im Zentrum Krakaus (Foto: N/A)

Im Flugzeug diesen schönen Satz von Adam Zagajewski zu lesen, ist bestimmt die eleganteste Form der Annäherung an Krakau. Denn das in der Luft sein schätzt der Autor offenbar viel mehr als das Durchwandern seiner Stadt. Dort begegnet dem einstigen Mitglied der oppositionellen Gruppe '68 an jeder Ecke kalte Geschichtsvergessenheit, die Erinnerung an Verfolgung und Erniedrigung, an all das, was eben im Gedächtnis aufbewahrt ist, wenn man lange fort war und irgendwann als Halbfremder wiederkommt.

Aber so melancholisch wie es der Dichter sieht, möchte sich das moderne Krakau natürlich nicht sehen. Junge Krakauer schwärmen von der Verpariserung der alten Wawel-Stadt, in die jetzt sogar die krakauphoben Warschauer kommen, um Klamotten zu kaufen. So viele Boutiquen und Szeneläden finde man in keiner anderen polnischen Metropole, heißt es immer. Als sei dies ein Ausweis von Qualität. Denn manch andere kommen hierher, um ihr Heimweh nach den verklärten Zeiten des frühen 19. Jahrhunderts zu füttern, ihre Sehnsucht nach der Romantik.

Seit ein paar Wochen gibt es nahe der Planty, dem Parkstreifen, der die alte Stadt umgürtet, auch ein neues Radisson-Hotel. Der Bau des Hauses hat zu großem Unmut geführt, die Krakauer wollten zumindest, dass er so aussehe wie die Philharmonie daneben. Es sieht jetzt tatsächlich ein bisschen so aus, lässt aber in seiner kühlen Eleganz die Floriana Straszewskiego ein wenig schmuddelig wirken, die an Würstchenbuden und Bierkneipen vorbei zum Wawel mit dem alten Königspalast führt, der groß und etwas düster über die Stadt wacht. Aber es gibt ja zum Glück das Krakau der Renaissance, dem Zagajewski viel Raum in seinem Buch "Ich schwebe über Krakau" widmet. Wenn die nicht wäre, schreibt er, würde die Bleischwere der massiven Bauten die Stadt dominieren.

Der Hauptplatz, der Rynek Glowny, ist belebt, in den Tuchhallen drängen sich die Menschen um die Stände der Händler, die wie eh und je die gleichen Waren anbieten: hölzerne Schachbretter, lederne Hüte, religiöse Devotionalien - alles Sachen, die man anschauen, aber nicht kaufen will. Am Denkmal des Nationaldichters Adam Mickiewicz klettern frühpubertäre Rotzlöffel herum und werfen sich Rotzlöffel-Schimpfwörter an den Kopf. Kaum Tauben, aber dafür viele Besucher mit Digitalkameras, die versuchen, den ganzen Mickiewicz mit einem Teil der Tuchhallen im Hintergrund drauf zu bekommen. Es ist früher Nachmittag, die Menschen strömen von allen Seiten auf den Platz, aber jetzt löst sich in einem der Ströme ein weißbärtiger Mann mit einem Kuss von einer Frau, die gleich darauf in einem anderen Menschenstrom verschwindet.

"Wohin wollen wir gehen?"

"Vielleicht nach oben, wo man alles sehen kann?"

Die Sicht aus der Vogelperspektive enthüllt die kleinen Geheimnisse der Stadt, die man als Passant nicht wahrnimmt.

Adam Zagajewski, der Dichter, ist erst vor zwei Jahren nach Krakau zurück gekehrt. Er hat lange in Paris gelebt, wo das Licht anders sei als hier, sagt er, dunstiger. In den achtziger Jahren war er ein verbotener Autor, Wolf Biermann hat über ihn ein erschütterndes Gedicht geschrieben, wie er damals auf der Durchreise in Hamburg gesessen habe, dünn und ständig auf dem Sprung.

Zagajewski kennt das Gedicht, betont aber, dass er damals nicht wirklich in Gefahr gewesen sei. Er habe Nischen gefunden, ein Lyriker führe schließlich immer ein Nischendasein. Und dieses Dasein habe gleich hier am Marktplatz angefangen, in einem Gebäude, das heute ein Restaurant beherbergt und oben eine Art Menagerie mit Blick über die Altstadt. Hier war die Redaktion der studentischen Zeitschrift Literarisches Leben, in der Adam Zagajewski sein erstes Gedicht veröffentlicht hat. Hier steht er jetzt, mehr als dreißig Jahre später und sagt: "Für die jungen Autoren in Krakau bin ich ein Feind." Weil er für eine längst wieder als reaktionär empfundene Moderne steht. Weil er kein Avantgardist ist, kein lyrisches Raubtier, sondern ein Melancholiker, der in seinen Gedichten europäische Kulturgeschichte und menschliche Schicksalhaftigkeit verschmilzt.

Dabei war Adam Zagajewski in den sechziger und siebziger Jahren auch einer von den jungen Bilderstürmern, die den metaphernverliebten Ästhetizismus der Altvorderen ablehnte. Mit anderen zusammen hatte er die Gruppe "Teraz" gegründet und das politisch ästhetische Manifest "Die nicht dargestellte Welt" verfasst, das mehr Wirklichkeit in der Dichtkunst forderte. Heute werfen ihm manche Kritiker seine angeblichen Manierismen vor. Zagajewski ist ein Dichter des europäischen Lyrikkanons geworden. Ein humanistischer Bestandsordner, dessen Gedichte das altmodische Wagnis eingehen, an die Magie der Sprache zu glauben: "Die Zunge ist im Reservat des Gesichts das letzte Tier."

Nebenan, in der Weichselstraße, ist noch heute die Redaktion der Allgemeinen Wochenzeitung Tygodnik Powszechny, deren Mitarbeiter Zagajewski in den frühen Jahren war. Ein katholisches, aber weltoffenes Blatt, das die päpstlichen Verdikte des einstigen Krakauer Kardinals Karol Wojtyla durchaus kritisch sieht und das im vatikantreuen Radiosender Radio Marija seinen katholisch-fundamentalistischen Widerpart hat. Seit dem Ende des Kommunismus wird die religiöse Debatte in Polen vom Gegensatz zwischen dem Fundamentalismus und dem Aufbruch im Katholizismus geprägt.

Das alte und das neue Krakau - für Adam Zagajewski ist das offensichtlich kein harmonisches Miteinander. Er wundert sich über die Unwilligkeit der Bürger, der alten Stadt etwas Neues hinzuzufügen: "Diese Stadt kann sterben, wenn sie so bleibt, also muss man ab und zu was verändern."

An einem Ort in Krakau hat sich gewaltig etwas verändert in den letzten Jahren. Das jüdische Viertel Kazimierz, ein paar Schritte von der Weichsel entfernt, war in den sechziger Jahren, daran erinnert sich Zagajewski, völlig heruntergewirtschaftet: "Es war ein sonderbarer Ort, taub und leer, eine öde Insel inmitten der Stadt - in den sechziger Jahren war Kazimierz nur von wenigen Menschen bewohnt, von Alkoholikern, die ihren Verstand versoffen hatten, von Huren mit heiseren Stimmen . . ."

Heute soll in Kazimierz vor allem die junge Szene beheimatet sein, heißt es. Kneipen mit tollen Namen gibt es ja genug: "Singer", "Propaganda". Aber das Viertel wirkt doch seltsam kalt und unlustig. Das Jüdische ist aufs Museale reduziert. In Kazimierz leben heute noch knapp 200 Juden. Versuche der Stadtregierung, aus Kazimierz ein lebendiges jüdisches Zentrum zu machen, waren gescheitert, denn die polnischen Juden, die nach 1946 in ihre Heimat zurückkehren wollten, waren mit dem Hass ihrer nichtjüdischen ehemaligen Nachbarn konfrontiert. Diese wollten nicht, dass die Juden in ihre alten Häuser zurückkehrten, die sie mittlerweile selbst bewohnten. In einem derart feindseligen Klima kann kein neues jüdischen Leben entstehen, und deshalb geht man durch das jüdische Kazimierz wie durch ein Freilicht-Museum. Die blankgeputzte Tempel-Synagoge ist ein beliebtes Motiv von Hochglanzfotografen. Wer etwas über das alte jüdische Leben in Kazimierz erfahren will, schließt sich einer der Führungen auf den Spuren des Spielberg-Films "Schindlers Liste" an. Die Kulisse für seinen Film hat der Regisseur hier gefunden.

Vor dem alten jüdischen Friedhof hat eine dieser neuen Kneipen aufgemacht. Man kann sich auf die Terrasse setzen und warten, bis jemand kommt und Getränke bringt. Aber man wartet vergeblich. Also geht Zagajewski selbst, bringt Tee und Wasser und sagt, dass seine Frau diesen Blick auf den Friedhof nicht schätzt. Es sei ihr zu viel Metaphysik.

Zagajewski erzählt von seinen Versuchen, Krakaus einmaligen Platzvorteil als Heimat zweier lebender Literaturnobelpreisträger zu nutzen. Czeslaw Milosz und Wislawa Szymborska leben in der Stadt und Zagajewski selbst gilt ja auch als Kandidat für die Auszeichnung. An der Jagiellonen-Universität veranstaltet er Lyrik-Festivals mit seinen amerikanischen Studenten - Zagajewski lehrt kreatives Schreiben an der Universität Houston.

Die Stadt Krakau, die Zagajewski in den frühen Jahren als das "rückständige Provinznest einer sowjetischen Kolonie" vorkam, hat jetzt zumindest wieder ihren Ruf als literarische Hauptstadt Polens zurück. Wie zum Beweis dafür grüßt jeder zweite Krakauer den Dichter Zagajewski beim Spaziergang unter den dichten Baumdächern des Planty. Und während er selbst von seinem einfachen Leben erzählt, das aus den Versuchen zu schreiben und dem Umherlaufen bestehe, rast ein Mann mit grüner Mütze auf dem Fahrrad vorbei. Der Lyriker schaut ihm nach und sagt: "War das Slawomir Mrozek? Ich habe das Gefühl, er könnte es gewesen sein."

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