Es ist unmöglich, sich im Speisesaal des Grand Hotel in Kopaonik auf sein Essen oder seinen Gesprächspartner zu konzentrieren. Ein Defilee von auffallend schönen und eleganten Frauen umkreist den Buffettisch und zieht alle Blicke auf sich. Aber dafür reist die Schickeria Belgrads ja jeden Winter an, genauso wie die Ungarn, Rumänen, Griechen und immer mehr Russen: zum Sehen und Gesehenwerden. Und natürlich auch zum Skifahren.
St. Moritz Serbiens nennt sich Kopaonik, das ist albern, trifft die Sache aber ganz gut. Wer es sich leisten kann, fährt ins älteste und größte Skigebiet ganz im Süden des Landes, an der Grenze zum Kosovo. Novak Djokovic, derzeit der wahrscheinlich berühmteste Serbe, schaut regelmäßig vorbei, ebenso wie andere Prominente. Djokovic' Eltern hatten in Kopaonik ein Restaurant, die Nummer eins der Tenniswelt lernte hier als Kind das Skifahren.
Auch Danilo Borovčanin kommt jedes Jahr. Seit 1956. Boris, wie er sich vorstellt, ist Skilehrer. Die Sonne hat Flecken auf seinen fast kahlen Schädel gebrannt, aber der graue Schnurrbart verleiht seinem faltigen Gesicht die Würde eines Grandseigneurs. Boris ist 79 Jahre alt, "aber ich fühle mich wie 60", sagt er. Fünf bis sechs Stunden pro Tag Kurse zu geben, sei kein Problem. "Ich mache das aus Liebe."
Als Boris zum ersten Mal nach Kopaonik kam, gab es hier nichts. Keine Hotels, keine Lifte, keine Pisten. Um ein paar Sekunden abzufahren, musste er mühselig aufsteigen. "Aber wir waren Enthusiasten", sagt Boris. Er und die anderen ein, zwei Dutzend Verrückten, die mit dem Zug von Belgrad nach Rudnica fuhren, ihre Ski auf Pferde zurrten und die restlichen 18 Kilometer zu Fuß gingen. Übernachten durften sie in den Hütten des Militärstützpunkts, Boris kannte einen der Offiziere.
Das Skifahren brachten sich die Pioniere selbst bei. Sie schauten sich Skirennen im Fernsehen an und ahmten die Bewegungen nach. Die ersten Pisten planierten sie selbst, indem sie seitlich aufstiegen. Irgendwann bauten die Soldaten einen Lift für ihre Vorräte, den die Skifahrer benutzen durften. Und 1962 lief der erste richtige Skilift an. Vielleicht 100 Besucher kamen nun an den Wochenenden mit dem Bus aus Belgrad, erzählt Boris.
Heute geht es in Kopaonik zu wie in den Alpen. Moderne Sessellifte aus Österreich und Südtirol - zwei sogar mit beheizten Sitzen und Wlan - schaufeln Zehntausende Wintersportler auf die Berge, Schneekanonen decken fast die gesamten 55 Kilometer Piste mit künstlichem Weiß ein. An den Talstationen drängen sich Schlangen von Skifahrern. Und aus Lautsprechern an den Masten der Lifte quäkt Dauerschleifen-Pop - der Preis dafür, dass ein Radiosender das Skigebiet sponsert.
Die staatlichen Betreiber haben in den vergangenen zehn Jahren gut 54 Millionen Euro in das Skigebiet gesteckt. Mit Sölden, Trois Vallées oder dem echten St. Moritz kann sich Kopaonik dennoch nicht messen. Der höchste Berg, der Pančićev vrh, misst 2017 Meter. Wenn man auf dem Gipfel, unterhalb der militärischen Sperrzone mit der weißen Radarkugel, aus dem Lift steigt, überblickt man sanfte Bergkämme, wie abgeschmirgelt und mit einem Waldteppich überzogen. Das Kopaonik-Massiv hat den Charakter eines Mittelgebirges. Und so sind auch die Skipisten.
Es gibt schöne, lange Abfahrten und wunderbare Sonnenhänge. Drei Pisten qualifizierten sich sogar für FIS-Rennen im Slalom und Riesenslalom. Aber was hier rot markiert ist, wäre in den Alpen eher blau, und die wenigen schwarzen Pisten sind nur zum Fürchten, wenn sie eisig sind. Boris stört das nicht. Er ist die Berge in Österreich, Italien und Frankreich hin- abgewedelt, weil er sehen wollte, wo das Skifahren herkommt. Und er hatte Angebote, in den Alpen zu arbeiten. Doch Boris blieb. "Kopaonik ist nahe an meinem Herzen", sagt er und fasst sich an die Brust. "Der Wald ist wunderschön, man kennt sich hier, und es gibt viele Sonnentage."
Die meisten Serben sehen das offenbar genauso. "Sogar im Krieg war es hier voll", erzählt Boris. Als 1999 Nato-Bomben auf das Land fielen, liefen die Lifte weiter. Zwar kamen wegen der Sanktionen keine ausländischen Gäste mehr. Aber die Hotels waren ausgebucht.
Das gilt heute natürlich umso mehr, da aus dem ganzen Balkan Skitouristen nach Kopaonik fahren. Und so wird emsig gebaut. Die riesigen Resorts aus den 1980er- und 1990er-Jahren mit ihren Fachwerkfassaden und Schindeldächern haben ihre Zimmer aufgemöbelt und sich schicke Spas zugelegt, zum Teil sogar mit heißem Außenpool. Ein neues Hotel mit zwei Türmen wurde erst im vergangenen Jahr eröffnet. Und das Fundament des nächsten Resorts ist bereits ausgehoben, die Grundstücke für weitere Projekte sind abgesteckt. Ein Investor aus Dubai plant gerade das erste 5-Sterne-Hotel.
Boris sieht den Bauboom kritisch. Die Lifte und Pisten könnten schon jetzt nicht mehr all die Touristen aufnehmen, die in den Hotels wohnen. "Man sollte den Bau neuer Hotels stoppen", sagt Boris. "Oder neue Pisten anlegen." Das dürfte allerdings schwierig werden, es müssten weitere Schneisen in den Bergwald geschlagen werden. Das Kopaonik-Massiv aber ist seit 1981 als Nationalpark geschützt.
Eine Alternative wäre sanfter Wintertourismus. Marko Nikolić versucht, ihn seinen Landsleuten näher zu bringen. Bisher mit mäßigem Erfolg. "Nur Deutsche und Briten buchen meine Schneeschuhtouren", sagt der 37-jährige Bergführer. Und das nur ein bis zwei Mal pro Monat. Zumindest Skitouren nähmen zu, wenn auch von sehr niedrigem Niveau aus. Nikolić hat Sport studiert, abgebrochen, und leitet nun Touren überall auf dem Balkan. Eine seiner Lieblingsrouten in Kopaonik ist ein Kammweg, der im Sommer viel begangen wird. "Aber im Winter ist hier niemand", sagt er, als er nach einer halben Stunde Fahrt an der Straße parkt. Der Bergführer steigt voran über eine zugeschneite Forststraße, bald zeigt er auf eine Spur im Schnee: "ein Wolf". Nach einer Stunde biegt er auf einen Bergkamm mit herrlicher Aussicht: rechts die bewaldeten Hänge des Nationalparks, links Reihen von Hügelketten wie Wellen im Meer. "Die Doppelspitze in der Ferne, das ist das Durmitor-Massiv in Montengro", erklärt Nikolić. Und die Berge hinter dem Skigebiet lägen bereits im Kosovo, den die meisten Serben freilich weiter als Teil ihres Landes sehen.
Das Panorama wird noch besser, als die Schneeschuhwanderer auf dem Gipfel des Kukavica ankommen. Von hier, aus 1726 Metern Höhe, überblickt man fast den gesamten Nationalpark. Nun erst beginnt der fordernde Abschnitt der Tour. Es geht auf und ab, Stiefel rutschen aus den Halterungen der Schneeschuhe, man hört Schimpfen und Murren. Nur noch zehn Minuten, sagt Nikolić, das Ziel sei die Mühsal wert. Er behält recht. Der "Grat der wilden Ziegen" ist bildschön, direkt neben ihm rauscht die Samokovska in ihrer Schlucht. "Im Herbst siehst du im Wald jeden Farbton", sagt Nikolić. Auf der anderen Seite des Flusses wachse die Serbische Fichte, die zu Ehren ihres Entdeckers Pančić-Fichte genannt wird. Sie ist eine der endemischen Pflanzen, zu deren Schutz der Nationalpark gegründet wurde.
Auf dem Weg zurück meckert keiner, zu grandios ist das Naturschauspiel. Die Abendsonne lässt den Horizont brennen wie den Himmel über Mordor. Es ist noch klarer geworden, deutlich sieht man das Skigebiet mit seinen Liftmasten. Die lärmenden Lautsprecher sind weit weg, Winterstille liegt über den Bergen. Fast so wie damals, als der alte Boris hier das Skifahren gelernt hat.