Schweiz:Auf eine Steinsuppe

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Das "Heimeli" ist mehr als 300 Jahre alt, über 100 davon diente es als Herberge. (Foto: Gabriella Pahud)

Das 300 Jahre alte Gasthaus "Heimeli" liegt in einem stillen Seitental zwischen Arosa und Davos. Es ist nicht nur für seine kulinarischen Qualitäten bekannt, sondern hat auch einen besonderen Stil - idyllischer und schweizerischer geht es kaum.

Von Titus Arnu

Der Felsen sieht aus wie ein Fantasy-Schloss. Türkisblau schimmerndes Eis bedeckt die Granitbrocken. Meterlange Zapfen hängen an der Wand, manche sehen aus wie Orgelpfeifen, andere erinnern an gefrorene Bärte. Es tropft, gluckert und knackt. Tief unten in der engen Schlucht, zum Teil verborgen unter einer dicken Schnee- und Eisschicht, zischt ein Gebirgsbach. Der Weg führt über eine Brücke, weiter steil hinauf durch den Wald. Frischer Schnee knirscht unter den Tourenskiern, der Wind pfeift einem um die Ohren - und niemand sonst scheint weit und breit unterwegs zu sein.

Oberhalb der Waldgrenze weitet sich der Blick, man sieht die Bergstation auf dem Aroser Weisshorn (2653 Meter) sowie die fast gleich hohen Berge Chüpfenflue und Strela. Hier, in einem stillen Seitental des Schanfigg zwischen Arosa und Davos, befindet man sich abseits der Skigebiete. Eine Schlittenbahn führt hinauf zum Heimeli, einer einsam gelegenen Berghütte auf 1800 Metern Höhe. Zu Fuß oder mit Tourenskiern ist man eineinhalb Stunden unterwegs, falls man nicht zu oft pausiert und die wildromantische Gegend bewundert. Was man aber tun sollte - sonst verpasst man möglicherweise die schönsten Momente.

Die Gegend ist wildromantisch und ein Traum für Tourengeher. In den Holzhäusern im Dorf Sapün wohnt niemand mehr. (Foto: Titus Arnu)

Nach einer Stunde Aufstieg ist da plötzlich ein seltsames Gefühl, beobachtet zu werden. Und da ist der Beobachter auch schon: Weiter oben am Hang, etwa 100 Höhenmeter entfernt, steht ein Hirsch und schaut herunter. Wir blicken uns eine Weile lang gegenseitig an, ruhig, respektvoll, dann gehen wir beide unserer Wege. Über sanft ansteigende Hügel führt der Weg nach Sapün, einer uralten Walsersiedlung. Die Fassaden aus dunkelbraunen Lärchenbrettern glänzen in der Abendsonne, auf der bunten, verschnörkelten Inschrift am ehemaligen "Post Huus" ist die Jahreszahl 1863 zu lesen.

Das "Dörfji" Sapün ist schon lange nicht mehr bewohnt, das einzige durchgehend bewirtschaftete Gebäude in dem weiten Hochtal ist das Heimeli. Das Gasthaus liegt noch 15 Minuten oberhalb der ehemaligen Walsersiedlung, versteckt hinter einer Kuppe. Die Fahne mit dem Wappen von Graubünden (Steinbock, blau-gelbes Kreuz) knattert im Wind. Neben der Eingangstür hängt eine Kuhglocke, es gibt Begrüßungsschilder für Menschen und Tiere ("Willkommen lieber Hund - bitte bleib im und ums Heimeli an der Leine"). Skier, Skischuhe und nasse Klamotten bleiben im Keller. Zu den ungeschriebenen Gesetzen gehört, dass Hüttengäste "Hüttenfinken" tragen. Damit sind keine domestizierten Singvögel gemeint, es handelt sich um die Schweizer Bezeichnung für Hausschuhe.

In der Stube sitzen ein paar Familien, die im Heimeli zu Abend essen und anschließend die 4,5 Kilometer lange Piste mit dem Schlitten hinunterfahren wollen. An einem Tisch wird gerade Fondue serviert, am anderen Älplermakkaroni. Im Ofen knackt das Holzfeuer, auf den mit Kiefernzapfen geschmückten Tischen brennen Kerzen, an den Fensterscheiben prangen Eisblumen. Die Szenerie wirkt, als wäre sie von Schweizer Tourismuswerbern extra so inszeniert worden, aber alles ist echt. Heimeli, Dörfji, Fondue, Schlittelplausch - idyllischer und schweizerischer geht es eigentlich kaum. Unweigerlich fragt man sich, "wo's Heidi nur bliebt"? Die Heidi heißt aber Miri, sie hat einen deutschen Akzent und bringt eine "Staisuppa". Wie bitte, eine Steinsuppe?

In der Schale mit der Gemüsesuppe klackert wirklich ein Stein herum. Zur "Sapüner Staisuppe" gibt es eine Legende: Einst hatten die armen Einwohner von Sapün wenig zu essen und verabredeten sich deshalb zu einer gemeinsamen Suppe, jeder sollte das mitbringen, was er noch zu Hause hatte. Ein Mädchen brachte nur einen Stein mit, weil es nichts anderes fand. Begeistert war die Dorfgemeinschaft nicht gerade von dieser kärglichen Einlage. Doch das Mädchen erzählte den anderen, dass es sich um einen Glücksstein handele. Die Suppe wurde damit nicht kalorienreicher, aber sie bot den darbenden Bergbewohnern ideelle Nahrung - die Bündner Version von Leo Lionnis Mäusefantasiegeschichte "Frederick". Fast alles hat im Heimeli eine Geschichte, schließlich ist das Haus 313 Jahre alt.

Früher war das Gasthaus eine wichtige Station am Übergang zwischen Davos und Arosa. Als das Sapün-Hochtal noch besiedelt war, war der Weg über den Strelapass die Hauptverbindung zwischen den beiden Orten, heute wird er im Winter von Skitourengehern und im Sommer von Wanderern und Mountainbikern benutzt. Es gibt mittlerweile Wlan und vegane Burger im Heimeli, aber vieles fühlt sich an wie aus einer anderen Zeit. Die Gaststuben und Zimmer sind dekoriert mit Antiquitäten. In der "Hirtastuba" hängen Kälberstricke an der Wand, der "Skilehrerschlag" ist mit Lederfäustlingen, einer alten Gletscherbrille und Hickory-Skiern ausgestattet. Die Zimmer sind geschmackvoll und schlicht eingerichtet, es gibt Waschbecken, aber keine Heizung. Wer friert, findet im Schrank Extradecken. Das Gemeinschaftsbad ist topmodern mit Fußbodenheizung, warmen Duschen, Spielsachen für Babys und Leseecke ausgestattet. Eine Sauna oder gar ein Schwimmbad gibt es nicht, braucht es auch nicht, denn das ganze Heimeli fühlt sich an wie ein einziger Wellnessbereich.

Die Jahreszahl 1863 ist auf dem ehemaligen "Post Huus" zu lesen. (Foto: Titus Arnu)

Das liegt vor allem an Markus Koch. Er verwöhnt die Gäste mit Bündner Spezialitäten und sorgt durch seine ruhige Art für diese einzigartig heimelige Heimeli-Atmosphäre. Der 60-Jährige stammt aus Pontresina im Engadin und führt im Heimeli seit 2016 die Geschäfte. "Ich bin auf 1800 Metern aufgewachsen, das Heimeli ist auf 1830 Meter, hier fühle ich mich zu Hause", sagt er. Seine Heimatverbundenheit kann man schmecken: Auf der Karte stehen Klassiker wie Capuns, Pizzoccheri und Pizokel, Pommes gibt es natürlich nicht.

Koch ist gelernter Konditor und Bäcker, er macht das Brot fürs Frühstück, backt Kuchen, Anisbrot und Hefezopf. Besonders lecker ist das Arvenbrot mit dem ätherischen Aroma der Nadelbäume. Mit Arvenöl wird auch ein lokales Craftbier versetzt, extra fürs Heimeli. Das duftende Öl ist eine Kostbarkeit, für einen Liter braucht man eine Tonne Holz, er kostet 23 000 Euro. Nicht ganz so teuer sind die Literpreise der edlen Weine, die im Keller des Heimeli lagern. Hausgemacht sind unter anderem auch der Alpenkräutereistee und das "Tängeliwasser", aromatisiertes stilles Wasser aus der nahe gelegenen Quelle. Die kulinarische Qualität der Heimeli-Küche ist weithin bekannt, dementsprechend gut belegt sind die 46 Übernachtungsplätze in den Zimmern und Lagern, Silvester 2021 ist bereits ausgebucht.

Die Nacht über hat es gestürmt und geschneit, am nächsten Morgen scheint die Sonne auf eine strahlend weiße Alpenlandschaft. Heinz Fringer, Bergführer aus Arosa, steht pünktlich nach dem Frühstück vor der Tür des Heimeli. Wir sind für eine Ski-Rundtour verabredet. Vom Davoser Skigebiet aus fährt man in zehn Minuten zum Heimeli ab, die Route vom Weißfluhjoch bis zum Gasthaus ist mit orangenen Stangen markiert. Wir nehmen den umgekehrten Weg und steigen mit Tourenskiern in Richtung Weißfluh auf, um dann von der 2686 Meter hohen Zenjiflue ins Nachbartal abzufahren. Über weite, sanfte Hänge spuren wir durch den Tiefschnee, vorbei an tief verschneiten Almhütten.

Oben auf der Schwerzi, dem Übergang in Richtung Klosters, wird plötzlich alles weiß. Der Himmel zieht zu, ein Sturm kommt auf, es bläst so stark, dass man kaum stehen bleiben kann, um die Steigfelle von den Skiern zu ziehen. Man fühlt sich orientierungslos, so wie Hans Castorp im "Zauberberg". Der Roman spielt in dieser Gegend, Thomas Mann wurde durch einen Aufenthalt im Hotel Schatzalp inspiriert, das nicht weit entfernt auf der anderen Seite vom Strela-Pass liegt. "Die Flocken flogen ihm massenweise ins Gesicht und schmolzen dort, so dass er erstarrte", heißt es im Kapitel "Schnee", "es war das Nichts, das weiße wirbelnde Nichts, worein er blickte, wenn er sich zwang zu sehen ... So irrte man herum, so fand man nicht heim." Doch im Gegensatz zu Hans kennt sich Heinz glücklicherweise aus. Und so findet man nicht nur heim, man findet problemlos ins Heimeli.

© SZ vom 12.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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