Saint Petersburg in Florida:Die reine Schönheit

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Die unproduktivste Stadt der Welt lebt davon, einfach schön zu sein. Und am Strand schwimmt man wie in Meisterwerken von Dali.

Sonja Zekri

Das Alter. Reden wir über das Alter. Ja, es gab diese Zeit, als Saint Petersburg Beinamen trug wie "Gottes Wartezimmer" oder "größter Friedhof der Welt" oder auch "Home of Denture World", was man etwa mit "Welt der dritten Zähne" übersetzen kann.

Als das Durchschnittsalter in Amerika bei 30 Jahren lag, aber das in Saint Petersburg 16 Jahre darüber. Als auf den Straßen Blutdruckmessgeräte wie Parkuhren standen und die berühmten "grünen Bänke" - Symbole der Entspannung, der Gastfreundschaft und der Gehbehinderung.

Aber das ist vorbei, das waren die Siebziger, und Professor Raymond O.Arsenault erzählt nur noch davon, um zu veranschaulichen, wie sehr sich die Zeiten geändert haben.

Heute ist Saint Petersburg jugendlich, was erstens daran liegt, dass die Stadt jünger, und zweitens, dass der Rest Amerikas älter geworden ist. Der Altersdurchschnitt von 38 Jahren liegt nur noch zwei Jahre über dem gesamtamerikanischen, und die Vorhersage für das Jahr 2010, sagt Arsenault, sieht ihn erstmals darunter.

Arsenault unterrichtet "Florida-Studies" an der University of South Florida, was ein wenig klingt wie ein Exzellenz-Cluster für Sandkorn-Analyse. Aber Florida, sagt Arsenault, sei in vieler Hinsicht ein Laboratorium für den Rest der Staaten, was die Einwanderung aus der Karibik, aus Lateinamerika betreffe, die Wirtschaft, die Geschichte. Nur Saint Petersburg passt da nicht so richtig hinein.

Hier leben kaum Hispanics, nur ein paar Asiaten, aber eigentlich ist es eine weiße Stadt. Und noch etwas ist anders: "Saint Petersburg wurde nie industrialisiert, es hat den ganzen kapitalistischen Irrsinn nie mitmachen müssen. Diese Stadt ist einer der wenigen Orte, der allein davon lebt, dass er so schön ist", sagt Arsenault.

Dann redet er ein bisschen über die fußgängerfreundliche Innenstadt, über das schöne, nie zugebaute Ufer und den Pier, der sich so vorwitzig ins Meer schiebt, als wollte er dem Ozean die Zunge herausstrecken.

Bei anderer Gelegenheit hat Arsenault seine Heimat "die größte unproduktive Stadt der Welt" genannt. Das kam nicht so gut an.

Arsenaults Fakultät ist in einem spitzgiebeligen Knusperhäuschen mit säulenflankierter Veranda untergebracht - ein Stil, der hier "Dutch Colonial Revival Style" heißt und daran erinnert, dass Florida zu den Südstaaten gehört.

Benannt wurde es nach Perry Snell, einem der ersten Potentaten der Stadt. Früher stand das Haus ein paar Blocks weiter, musste dann aber einem riesigen Apartmenthaus weichen, und so hat man es vor elf Jahren einfach hochgehoben und umgesetzt. Und das war noch ein Glücksfall.

Das Colonial Hotel wurde 2006 abgerissen, ebenso wie das Royal Palm-Hotel. Den historischen Pier hat es schon vor Jahrzehnten erwischt. Inzwischen aber hat Saint Petersburg entdeckt, wie viel Charme die prächtige Open-Air-Post und die Kirchen aus den Anfängen des letzten Jahrhunderts haben, das YMCA-Gebäude von 1927 mit dem gekachelten Pool oder das Coliseum, jene Tanzhalle, wo einst der Film "Cocoon" gedreht wurde.

Ein Hauch von Boston liegt über dieser Innenstadt, eine Ahnung von Europa.

Und ist das ein Wunder? Saint Petersburg trägt den Namen einer der stolzesten Metropolen des alten Kontinents. Es ist nicht Little Odessa, aber in den kleinen Cafés am Meer hört man Russisch, es gibt ein russisches Kunstgeschäft, "Vladimir's", und den Verein "Russian Heritage".

Einer der beiden Stadtgründer war nämlich der russische Aristokrat, Journalist und Globetrotter Pjotr Alexejewitsch Dementjew, der sich später Peter Demens nannte. Er hatte sich aus dem autokratischen Russland in die freie Neue Welt geflüchtet, in Florida die Orange-Belt-Eisenbahn bis ans Meer geführt und dort mit seinem Partner John Williams eine Stadt gegründet, die er nach der Kapitale seiner Heimat benannte: Saint Petersburg.

William H.Parsons ist Historiker und russophil und kann stundenlang über die Gemeinsamkeiten der zwei Städte plaudern. Zum Beispiel verfügen beide über wunderschöne Uferanlagen, über Inseln, Brücken und Parks. Beide sind in den ersten 100 Jahren ihres Bestehens geradezu explodiert.

"Technisch gesehen ist Sankt Petersburg etwa zwanzig Mal so groß wie Saint Petersburg, aber nur, weil die kleinen Städte eingemeindet wurden", sagt Parsons, und wenn er damit andeutet, Saint Petersburg könne fast aufschließen, wenn es nur ganz Pinellas County von Clearwater bis Tierra Verde kassierte, ist das einerseits Hybris, andererseits reine Mathematik.

Aber er kehrt auch die Unterschiede nicht unter den Tisch. Zum Beispiel die Sonne.

In Petersburg, Florida, scheint sie so hartnäckig, dass der Verleger des Evening Independent mal geschworen hatte, sein Blatt an jedem sonnenlosen Tag kostenlos abzugeben, was in den 75 Jahren, in denen das Angebot bestand, immer nur viermal jährlich geschah.

Oder die Lebensqualität: 1885 hatte Dr.W.C.Van Bibber Petersburg zur "gesündesten Stadt Amerikas" erklärt, was damals angesichts der Moskitowolken stark geschmeichelt war, verglichen mit dem Typhus-Sumpf an der russischen Newa aber viel für sich hatte.

Es gibt haufenweise solche abseitigen Geschichten und verrückte Helden in der Geschichte Saint Petersburgs, und einer der verrücktesten ist Tony Jannus. Im Jahr 1914 flog der Pilot in sensationellen 23 Minuten auf einer Höhe von 15 Metern von Saint Petersburg auf die andere Seite der Bucht nach Tampa.

Er begründete damit die erste Verkehrsfluglinie der Welt, und diesen Triumph kann auch die Tatsache nicht schmälern, dass sie nach drei Monaten eingestellt wurde, weil der Staat keine Lizenz für den Posttransport erteilt hatte, weshalb Jannus in Russland (!) Kampfflugzeuge flog und eines schwarzen Tages über dem Schwarzen Meer abstürzte.

Eine Nachbildung von Jannus' legendärer Benoist-Maschine im ewigen Landeanflug hängt heute im kleinen, feinen Museum of History, wie die Stadt überhaupt eine ziemliche Museumsdichte hat.

Es gibt ein Holocaust-Museum, das Museum of Fine Arts mit Cézannes, Monets, Gauguins, vor allem aber gibt es das Dalí-Museum, das die größte zusammenhängende Sammlung von Werken Dalís außerhalb von Figueres in Spanien besitzt: Hier hängen frühe Werke wie "Fiesta in Figueras", Bilder, deren Räume leerer und deren Titel schrulliger werden ("Skull with its Lyric Appendage leaning on a Night Tabel which should have the exact temperature of a Cardinal Bird's Nest", 1934), die Ikonen des Surrealismus wie das Voltaire-Kippbild (1940) und die späten Monumentalgemälde wie die "Entdeckung Amerikas" (1958).

Zu verdanken hat die Stadt diesen Schatz dem Formplastik-Tycoon Reynolds Morse und seiner Frau Eleanor, die mit dem Künstler befreundet waren und sich in Cleveland eine phantastische Kollektion zusammengekauft hatten, die sie 1980 ihrem Traumort Saint Petersburg spendierten.

Und demnächst bekommt nicht nur das Dalí-Museum ein neues Gebäude.

Das Museum of Fine Arts expandiert, und der amerikanische Glaskünstler Dale Chihuly erhält ebenfalls ein eigenes Haus. Für eine amerikanische Stadt dieser Größe zeigt Saint Petersburg Symptome einer fortgeschrittenen Kunstobsession.

Überhaupt: die Kultur.

Die Geschichte.

Europa.

Orte wie Tarpon Springs ganz im Norden der Landzunge schlagen heute noch Kapital aus einer Vergangenheit als Einwanderungsziel griechischer Schwammtaucher mit blau-weißen Zorbas-Restaurants, die aus irgendeinem Grund auch zum Bauchtanz einladen. Männer in Astronautenanzügen demonstrieren das Original-Schwammtauchen, und vollgestopfte Antikenläden bieten Doris-Day-Kleider und die New York Times aus dem Ersten Weltkrieg.

Eines allerdings ist wichtig. Wie auch immer man sich zwischen Saint Petersburg und Tarpon Springs bewegt, wirklich niemals sollte man den Highway 19 benutzen, eine blinkende Konsumhölle, durch die sich die Autos im Tempo eines zerlaufenden Kaugummis fortbewegen.

Wenn man versehentlich doch hier gelandet ist, hilft nur eines: Wenden, ab nach Süden, über die Zugbrücken des Pinellas Bayway nach Pass-A-Grille und weiter, bis irgendwann die Zinnen des Hotel DonCesar emporragen.

Bewohnbares Märchen

Das DonCesar ist ein bewohnbares Märchen, ein gigantischer pinkfarbener Palast, ein Neuschwanstein aus Marshmallows. "Pink sieht aus wie Rot, das sich die Schuhe ausgezogen und sein Haar heruntergelassen hat. Pink ist die Schlafzimmerfarbe, die Farbe der Cherubim, die Farbe der Himmelspforten", schreibt Tom Robbins in seinem Buch "Big Pink": "Und dem DonCesar steht diese Haltung gut."

So gut, dass Zelda und F.Scott Fitzgerald hier regelmäßig dinierten und Al Capone im King-Charles-Restaurant einen Stammtisch hatte, dass Sergio Leone an diesem Strand "Es war einmal in Amerika" drehte - anders als das Vinoy-Hotel, die flamingofarbene Kathedrale mitten in Saint Petersburg, schwappt das DonCesar direkt in die Dünen.

400 Hochzeiten pro Jahr werden hier gefeiert. "Einmal hatten wir sechs an einem Tag", sagt der Resort-Host Ronald J.MacDougall. Er weiß, wo versteckte Treppen und alte Terrazzo-Böden liegen, und kann tolle Geschichten erzählen über die Kriegsjahre, als das Hotel ein Lazarett war, weshalb im Untergeschoss, dort, wo die toten Soldaten lagen, heute angeblich noch der Geist einer Krankenschwester herumspukt.

Richtig angsteinflößend ist das nicht, dafür ist das DonCesar einfach zu pink. Und der Strand zu schön.

So sehr sich Pinellas County auch mit Kultur schmückt, kann es doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier einige der besten Strände Amerikas liegen, ach was, der beste Strand: Ein paar Kilometer neben dem DonCesar nämlich erstreckt sich Fort DeSoto-Park, "Amerikas Strand Nummer 1 des Jahres 2005", mit türkisfarbenem Wasser und porzellanweißem Sand, so fein, dass er fast flüssig ist.

Es ist ein endloses und an einigen, wenigen Tagen einsames, sonnendurchglühtes Sandmeer.

Wie auf einem Dalí-Gemälde.

Informationen

Anreise: United Airlines fliegt ab 530 Euro von München nach Tampa, von dort ist es noch etwa eine halbe Stunde bis nach Saint Petersburg, www.united.com.

Mietwagen: Ohne Auto ist man in Saint Petersburg wie überall in Amerika verloren: Für eine Woche kostet ein Mietwagen zum Beispiel bei Alamo ab 139 Euro inkl. unbegrenzter Kilometer und gesetzlicher Haftpflichtversicherung, www.alamo.de

Unterkünfte: Mansion House, Bed & Breakfast, 105 5th Ave NE, www.mansionbandb.com, Zimmerpreise ab 149 US-Dollar.

Pier Hotel, 253 2. Ave. Nord, www.thepierhotel.com, Zimmerpreise ab 108 US-Dollar.

Weitere Auskünfte: Saint Petersburg/Clearwater Area CVB, c/o Schuch-Beckers Touristic Services, Alt-Erlenbach 25, 60437 Frankfurt/M., Tel.: 06101/44052.

Saint Petersburg war von den heftigen Stürmen in Florida Anfang Februar nicht betroffen.

© SZ vom 1.3.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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