Russen im Urlaub:Die sind einfach so

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Russische Touristen überschwemmen die europäischen Urlaubsorte gerade jetzt, in den Weihnachtsferien. Sie gelten als reich, ungehobelt, maß- und distanzlos. Oder ist das eher ein Klischee?

Sonja Zekri

Natürlich geht es nicht immer so fatal aus wie letztens in Genf. Zija B., Millionärssohn, 22 Jahre alt, raste in einem Lamborghini über die Schweizer Autobahn, flankiert von drei befreundeten Oligarchen-Söhnen in einem Bugatti Veyron, einem Mercedes McLaren und einem Porsche Cayenne Turbo. Zijas Lamborghini rammte den Wagen eines deutschen Rentners. Der Mann landete im Krankenhaus. Die Liste russischer Exzesse im Ausland war wieder um eine unerhörte Episode reicher.

Das Wow Kremlin Palace Hotel in Antalya (Foto: Foto: Wow Kremlin Palace Hotel)

Die Russen und die weite Welt, das ist in der Geschichte des postmodernen Reisens ein junges Kapitel, allerdings eines mit hohem Erregungspotential. Seit das postsowjetische Russland aus dem Gröbsten raus ist, trifft man Russen beim Wasserski vor Lanzarote und auf Safari in Kenia, beim Meditieren in Goa und an den Korallenriffen vor Cozumel.

In diesem Jahr werden es zwar weniger sein als auf dem Höhepunkt des Ölrausches. Die Krise hat die russische Wirtschaft böse erwischt, und viele Russen konzentrieren sich notgedrungen auf die landschaftlichen Perlen an Wolga und Ob.

Aber das ist nur ein Intermezzo, darauf kann man sich nicht verlassen. Außerdem ist immer noch ein reisefähiger Rest übrig, dessen Präsenz alles übersteigt, was man viele Jahrzehnte lang an den Stränden der Welt erlebt hat.

Die russischen Feiertage fallen traditionell auf die ersten zwei Januarwochen. Deutsche Reisende brechen kurz vor Weihnachten auf. Die Chance, dass sie einander begegnen, ist groß. Und für manche deutsche Touristen ist es ein Grund, umzubuchen.

Swimmingpool anstelle des Roten Platzes

Denn seit an deutschen Lieblingsdestinationen die durchsetzungsfähigen Konkurrenzurlauber aufgetaucht sind, ist nichts mehr, wie es mal war. Nehmen wir Antalya: Erstmals wurden in diesem Jahr mehr russische als deutsche Gäste gezählt. Inzwischen gibt es dort sogar einen Kreml, das "Kremlin Palace"-Hotel mit Zwiebeltürmen, goldenen Kuppeln und einem Swimmingpool an der Stelle, wo in Moskau der Rote Platz liegt.

Der russisch-orthodoxe Patriarch Kirill ventilierte bei einem Gespräch mit dem türkischen Tourismusminister bereits die seelsorgerische Betreuung von mehr als zwei Millionen russischen Touristen. Eine türkische Zeitung stellte fest: "Olga überholt Helga".

Man hört von Stalingrad-Situationen zum Frühstück, wenn russische Gäste das Büffet im Sturm verwüsten und stapelweise Wurstbrote zusammenraffen, als wäre es die letzte Nahrung für Monate; davon, dass sie abends die Sonnenliegen in ihre Zimmer schleppen, damit sie sie morgens nicht lange suchen müssen; dass sie drängeln, rüpeln, rülpsen, dass sie Leggings in Restaurants tragen, in denen selbst die Krawatten der Kellner Designerstücke sind.

Russische Medien berichten von Konflikten mit italienischen Sicherheitsbehörden, nachdem russische Touristen in römischen Brunnen gebadet hatten wie die Fallschirmspringer am Tag der Luftlandetruppen im Moskauer Gorki-Park. Auf einem syrischen Basar mussten Reisende vor einer aufgebrachten Menge in Sicherheit gebracht werden, weil die Frauen außer winzigsten Shorts fast nichts anhatten.

Rucksacktouristen in Italien (Foto: Foto: AP)

Seit ein paar Jahren klingen Hotelratings manchmal so wie diese Beurteilung über das "Aspendos Beach" an der türkischen Riviera: "Sehr große Anlage. Sehr sauber. Keine Russen." Und im Sommer wählte das britische Portal www.realholidayreports.com die unbeliebtesten Urlauber. Auf Platz 1: die Russen. Dort lösten sie übrigens die Deutschen ab.

Verfehlungen anderer Nationen

An dieser Stelle wollen wir kurz innehalten und an all die übrigen fehlgekleideten Besucher aus anderen Ländern erinnern, die sich benehmen wie Rotz am Ärmel, sobald sie die Landesgrenze überschreiten. An das zottelköpfige deutsche Rucksack-Pack, das sich vorzugsweise bei Beduinen oder anderen zur Gastfreundschaft verpflichteten Völkern durchschnorrt und dies als interkulturellen Austausch begreift. An amerikanische Afrikareisende in Combat-Kluft vom Schweißband bis zur Khaki-Socke, deren Entdeckerleistung darin besteht, täglich mit Livingstone-Geste in einen klimatisierten Bus zu steigen.

An italienische Reisegruppen, deren von keinerlei Fremdsprachenkenntnis getrübte Konversation auf drei Kilometer Luftlinie problemlos verständlich ist. An pöbelnde englische Teenager in Berlin. An die Schinkengasse auf Ibiza, kurz, an die ungezählten Schrecken des globalen Tourismus, die wiederum jene Abertausende zauberhafte russische Reisende entsetzt, die - gebildet, aufgeschlossen, polyglott - ein Geschenk für jedes Gastland sind.

Ende des politisch korrekten Teils. Denn um sie alle geht es nicht. Selbst wenn man das Ressentiment extrapoliert und sich nicht das Bildungsideal eines Studiosus-Veteranen zu eigen macht, ist beim russischen Durchschnittstouristen eine gewisse Unlust feststellbar, Reisen nicht nur als Ortswechsel, sondern auch als innere Entwicklung, ja, als freiwillige Anpassungsleistung zu begreifen.

Und das gilt nicht nur für bildungsferne Schichten. In warmen Worten etwa pries eine Umweltaktivistin und Journalistin aus Sotschi die Schönheiten eines islamischen Landes, die selbst der Mangel an harten Spirituosen nicht trüben könne. Beim letzten Mal habe man einfach 15 Flaschen Gin von zu Hause mitgebracht und am Flughafen auf die Taschen aller Mitreisenden verteilt. In aller Öffentlichkeit. In aller Seelenruhe. Ein Orchester aus Sankt Petersburg machte Schlagzeilen, als die Musiker auf einem Flug nach Amerika so betrunken und entfesselt waren, dass der Pilot zwischenlandete und das Ensemble in Washington aussteigen ließ.

Was ist Erholung? Was Entgleisung? Das sind Fragen, deren Schärfe in Russland unter anderem vom Einkommen abhängen.

Der Unternehmer Michail Prochorow, inzwischen reichster Mann des Landes, besuchte vor zwei Jahren das französische Courchevel. Er feierte mit Champagner, Wodka und einigen sehr schönen Frauen, die er aus Russland hatte einfliegen lassen. Die französische Polizei brachte dies auf die Idee, Prochorow könne in einen Zuhälter-Ring verwickelt sein, was dieser mit den Worten zurückwies, im Ausland werde die Erscheinung "freier, unabhängiger, gebildeter, selbstbewusster Russen" leider mit "Erstaunen, Neid und Aggression" aufgenommen. Immer rede der Westen gleich von Orgien, wo es in Wahrheit um die "traditionelle Liebe der Russen zu schönen und lebhaften Festen" gehe. Ein Missverständnis.

Der Westen amüsiert sich anders

Der Westen, selbst der wohlhabende, amüsiert sich anders. Er erholt sich anders. Er kühlt einen Château Mouton Rothschild für 500 Euro nicht mit Eiswürfeln. Er badet nicht in Kaviar. Und wenn er es tut, passt er auf, dass keiner zuguckt.

Dabei hat die russische Schnörkellosigkeit durchaus ihre Anhänger. Mohammed zum Beispiel, ein junger Ägypter, hat in einem Hotel in Hurghada gearbeitet und lernte es zu schätzen, dass die russischen Gäste sagen, was sie wollen und was nicht. Deutsche Urlauber, sagt er, lesen sich wochenlang in die Sitten des Gastlandes ein, beobachten am Strand über den Rand ihres Buches stirnrunzelnd die tobenden Russen und behandeln das Personal mit erlesener Höflichkeit, "aber am letzten Tag ziehen sie sich auf ihr Zimmer zurück und schreiben fiese Beurteilungen."

Und wer sonst gibt so viel Trinkgeld? Weder die Inder noch die Saudis, und ganz sicher nicht die Deutschen. Wir arbeiten das ganze Jahr hart, sagen die Russen, zehn, zwölf Stunden am Tag. Wenn wir Urlaub machen, gibt es kein Morgen. Wir nehmen nichts mit zurück.

Kitzbühel kam ins Gerede, weil die Tourismusdirektorin eine "Russenquote" ins Spiel gebracht hatte - mehr als zehn Prozent seien nicht wünschenswert, hatte sie gesagt. Die Stadt widerrief schnell. Sie hatte inzwischen gerechnet und festgestellt, dass russische Touristen doppelt so viel Geld ausgeben wie die übrigen Gäste. Schließlich erlaubte der feine Ort der Gattin des Moskauer Bürgermeisters sogar, für 40 Millionen Euro das Luxushotel Grand Tirolia zu bauen, obwohl man sich wirklich eine angenehmere Nachbarin vorstellen könnte als Julia Baturina.

Andere Hoteliers kamen zu ähnlichen Ergebnissen, übersetzen ihre Speisekarten ins Russische, schicken ihre Kellner in russische Sprachkurse und bemühen sich, die Spannungen zwischen den lebhaften Newcomern und dem Stammpublikum zu entschärfen. Es klappt nicht immer.

"Inzwischen ist es so weit gekommen, dass in der Türkei Hotels mit Tafeln "Russian free" (russenfrei) aufgetaucht sind. Meistens sind es die teureren", klagt eine russische Besucherin im Internet. Auch ein Land, das weniger empfindlich auf Kritik reagiert als Russland, hätte sich so etwas zu Herzen genommen.

"Warum mag man uns im Ausland nicht?", fragte vor kurzem ein Internet-Forum, und die Antworten reichten von Selbstgeißelungen ("Das Problem ist unser kulturelles Niveau! Mit diesem Benehmen demütigen wir uns und unsere Landsleute") über Volkspsychologie ("Die emotionale Bandbreite der Russen ist größer als jene von West-Europäern.

Sie reicht von höchster Gutmütigkeit bis zu grenzenloser Grobheit") bis zu einem aufrichtigen Ihr-könnt-mich-mal: "Wenn ich wegfahre, erhole ich mich, wie ich will und dabei lass ich mich auch von einem fremden Land nicht abhalten", schrieb ein Besucher: "Das ist vielleicht nicht sehr höflich, aber so ist es."

Früher hätte er sich so was nicht erlauben können. Früher hätte er es mit einer solchen Einstellung nicht mal in die Nähe des Flughafens gebracht. Zu Sowjetzeiten waren Auslandsreisen Triumphe nach ideologischen und bürokratischen Stahlbädern.

Nur die wenigsten Russen besaßen überhaupt einen Auslandspass, und selbst dann mussten sie monatelang zu Kreuze kriechen beim Chef des Betriebs, beim Parteisekretär, beim Gewerkschaftsvorsitzenden, beim Komsomol-Vorsitzenden und noch ein paar anderen Funktionären. Sie mussten stapelweise Gesinnungsgutachten vorgelegen, Selbstauskünfte über intimste Details, die jederzeit zum Urlaubsrisiko werden konnten: "Soso, Sie haben sich also von Ihrer Frau getrennt, weil Sie unterschiedliche Interessen haben. Sie sind Sowjetbürger, wie können Sie da unterschiedliche Interessen haben?"

Verweigerung des Bildungszwangs

Unerlässlich waren präzise Kenntnisse des Ziellandes, Parteigrößen, Politiker (ein und dasselbe), Hauptstadt, Einwohner. Selbst eine Woche Aufenthalt in Warschau wurde so zur Fortsetzung der sozialistischen Erziehungsanstrengungen mit anderen Mitteln. Insofern kann man das heutige Desinteresse an den kulturellen oder politischen Koordinaten des Ziellandes durchaus als eine Art nachgeholte Verweigerung dieses Bildungszwanges sehen.

Hinzu kommt: Wenn Russen reisen, reiste stets auch das Imperium. Das war im Sozialismus so, als eilfertige Georgier und Armenier gegenüber den feinen Moskauer Gästen die Illusion der Völkerharmonie aufrechterhielten, obwohl es im Inneren nationalistisch brodelte. Das galt aber auch für die Zarenzeit. Russland erstreckt sich über zwei Kontinente, umfasst Hunderte Völker, wenn auch ein paar weniger als früher.

Bis heute gibt es in Moskau kaum ein englisches Straßenschild. Wozu auch? Wer sich im Herzen der Macht Gehör verschaffen wollte, der hatte die Sprache der Macht zu kennen. Russisch war die lingua franca von Galizien bis zum Pazifik. Sprachliche Ignoranz ist ein Charakteristikum von Großmächten, aktuellen und verflossenen. Da unterscheidet sich Russland kaum von Frankreich oder England, von Amerika ganz zu schweigen.

Andererseits kann von einer strukturellen Assimilierungsschwäche nicht die Rede sein, im Gegenteil. Selbst als Kolonialmacht war Russland nicht imprägniert gegenüber äußeren Einflüssen. Hohe Kolonialbeamte zeichneten sich zwar gelegentlich durch beachtliche Brutalität aus, wie etwa der Orenburger Gouverneur Grigorij Wolkonskij. Dieser ließ Aufständische auspeitschen, brandmarken und verbannen, residierte aber gleichzeitig wie ein Sultan mit Harem, Büchern über Sitten und Bräuche, einer mongolischen Paradeuniform und nicht der kleinsten Sehnsucht nach Sankt Petersburg.

Berühmte Exilanten warfen sich ihrer neuen Heimat in die Arme wie der Schriftsteller Iwan Turgenjew, der Ende des 19. Jahrhunderts euphorisch erklärte, dass er sich nun endgültig in Baden-Baden niedergelassen habe und sich "nicht mehr als Russen betrachte, sondern als Deutschen".

Die Matrjoschka-Puppe - ein Plagiat?

Der Schweizer Slawist Felix Philipp Ingold spricht Russland in seinem neuen Buch "Die Faszination des Fremden" überhaupt jede originäre kulturelle Leistung ab. Von der Staatsgründung über den Religionsimport bis zur Brachial-Europäisierung durch Peter den Großen habe Russland Jahrhundert um Jahrhundert fremde Einflüsse eingeschmolzen und als Eigenes ausgegeben.

Selbst die Holzpuppe, die Matrjoschka, sei das Plagiat einer japanischen Mönchsfigur. Russland - eine gigantische Kopie, die nur über das Fremde zu sich selbst findet. Das ist eine ziemlich radikale These, die außer Acht lässt, dass sich früher Europa und heute die ganze Welt mal hierhin, mal dorthin anpasst, beeinflusst, inspiriert.

Immerhin macht sie Hoffnung für den deutsch-russischen Handtuchkrieg in Antalya. Eines Tages wird sich der Pro-Kopf-Verzehr am Büffet sowieso angleichen. Multilaterale Kommissionen werden die Liegestuhl-Verweildauer regeln. Frieden wird unter den Völkern des Strandes herrschen.

Dann reisen die Chinesen an.

© SZ vom 24./25./26./27./12.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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