Ruanda:Die nächste Generation

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24 Jahre nach dem Genozid erlebt Ruandas Hauptstadt Kigali einen kreativen Aufbruch - und wird auch für Touristen attraktiv. Die positive Energie ist fast überall in der Stadt zu spüren.

Von Susanne Maria Krauß

Joselyne Umutoniwase hat sich heute für die pink-weiße Oversize-Bluse entschieden. Grell-bunt mag sie eh gern. Für ihre Kollektionen kombiniert Umutoniwase moderne Schnitte mit den traditionellen farbenprächtigen Kitengestoffen. Im Nebenraum surren Nähmaschinen. Die 31-Jährige entwirft Mode in Kigali, Ruandas Hauptstadt. In Deutschland und Genf hat sie bereits ausgestellt, dieses Jahr fährt sie mit ihrer neuen Kollektion zu den Modeschauen nach Mailand. 35 Angestellte arbeiten für sie. "Vor zehn Jahren gab es hier in Ruanda nicht einen Modedesigner", sagt Umutoniwase. "Heute sind wir viele. Die gesamte kreative Industrie wächst unglaublich schnell." So wie die ganze Stadt. "Wir haben heute moderne Straßen, Internet und 24 Stunden Strom. Der Wandel ist beeindruckend."

Die junge Designerin will mit ihren Kleidern Geschichten erzählen. Geschichten vom modernen Ruanda, von stolzen Frauen und dem Ehrgeiz, das Land zum Besseren zu verändern. 24 Jahre ist es her, dass Kigalis Straßen mit Leichen bedeckt waren. Die Hutu-Mehrheit machte Jagd auf die Minderheit der Tutsi im Land. In 100 Tagen Hölle kamen mehr als 800 000 Menschen ums Leben. In Kigali gibt es heute ein Memorial Centre, das an den Genozid erinnert. Es wurde 2004 eröffnet - auf einem Gelände, auf dem geschätzt eine Viertel Million Menschen in Massengräbern verscharrt wurde. Das Memorial Centre will nicht nur ein Museum sein, es versteht sich als Erinnerungsort. Jedes Jahr im April, dem Monat, in dem das Morden begann, gedenkt das Land der Toten. Und beschwört: "Never again" - niemals wieder!

Perpetue Mukamusinga (links) war Ruandas erste Barista. Sie bildet jetzt Frauen aus, die ihre Leidenschaft für guten Kaffee teilen. "Jeder hier ist motiviert, sein Leben zum Besseren zu verändern," sagt sie. (Foto: Krauß)

Timothy Akimanzi ist ein Kind der neuen Generation, er hat den Genozid nicht erlebt. Der 24-Jährige ist einer der Künstler aus Kigalis lebendiger Galerienszene. Im Hinterhof des Inema Art Center stehen große Leinwände und unzählige Pinsel, Töpfe und Flaschen mit Acrylfarben. Zehn Künstler arbeiten hier unter einem Dach. Neben einer Ausstellung zeitgenössischer Kunstwerke bietet das Zentrum auch Workshops, Trommel- und Tanzgruppen an. "Kunst ist immer auch Therapie," sagt Timothy Akimanzi. "Doch wenn man sich unsere Bilder ansieht, dann entdeckt man darin, dass wir nicht mehr zurückschauen, sondern nach vorne." Nach 1994 dauerte es Jahre, bis auch die Künstlerszene des Landes eine Wiedergeburt erlebte. "Sie explodiert momentan geradezu", sagt Timothy Akimanzi und streicht sich über seinen dunklen Vollbart. "In dieser Stadt steckt eine unglaubliche Energie. Sie drängt einen fast dazu, jeden Tag nach dem Besten zu streben."

Wahrzeichen Kigalis: das Convention Center des Münchner Architekten Roland Dieterle. (Foto: Robert Harding / Imago)

Diesen Kurs gibt auch Präsident Paul Kagame vor. Ehrgeizig feilt er an seinen Plänen, das kleine Ruanda, das nur etwa so groß wie das Bundesland Hessen ist, zum Vorzeigeland des Kontinents zu machen. Jüngst hat seine Entscheidung, 34 Millionen Euro für "Visit-Ruanda"-Werbung auf den Trikots des FC Arsenal auszugeben, für Irritationen gesorgt. Britische Abgeordnete warfen ihm die Verschwendung von Entwicklungshilfegeld vor. Er konterte mit dem Vorwurf des Neokolonialismus, der Afrika rückständig halten wolle.

Dem Baulärm nach zu urteilen, arbeitet man in Kigali kräftig an der Modernisierung. Überall wachsen Hotels und Hochhäuser aus dem Boden. Den ambitionierten Plänen müssen ganze Stadtviertel weichen. Hütten und einfache Häuser, die oft noch aus Lehm gebaut sind und ein Wellblechdach tragen, werden abgerissen. Mit der Begründung, sie seien illegal errichtet worden. Die Regierung bietet den Bewohnern der Häuser zwar eine Umsiedlung an den Rand der Stadt an. "Doch was sollen wir dort?", fragt Irina Maniriho, die mit ihrem Mann und fünf Kindern in einer neun Quadratmeter großen Hütte wohnt. Ihr Mann erledigt kleine Schreinerarbeiten, um etwas Geld zu verdienen, und ist auf die Kunden in der Umgebung angewiesen. "Ich fürchte mich vor dem Tag, wenn wir hier weg müssen."

Bis spätabends sind Bewohner und Touristen zu Fuß unterwegs, die Stadt gilt als sehr sicher

Irina Manirihos Hütte und die ihrer Nachbarn verschwinden abends im Dunkeln, wenn die moderne City unter dem Nachthimmel glitzert und die Menschen in die Nacht aufbrechen. Bis spätabends sind Touristen wie Einheimische zu Fuß unterwegs, zu Bars, Restaurants und Clubs. Kigali gilt heute als eine der sichersten Großstädte Afrikas. Im Zentrum leuchtet bunt die Kuppel des Convention Centers, das längst zum Wahrzeichen Kigalis und Selfieliebling geworden ist. Entworfen hat das Gebäude der Münchner Architekt Roland Dieterle. Als er zum ersten Mal nach Ruanda kam, soll er von der Schönheit des Landes und seinen berühmten "tausend grünen Hügeln" überwältigt gewesen sein.

Tatsächlich fahren Touristen bis heute oft schnell aus der Hauptstadt hinaus. Sie kommen nach Ruanda, um die Berggorillas im Nordwesten des Landes zu besuchen, den Kiwusee an der Grenze zur Demokratischen Republik Kongo oder um auf einer Kurzsafari im Akagera-Nationalpark im Osten Ruandas Löwen und Giraffen zu fotografieren. Doch immer öfter entdecken Besucher, dass sich Kigali für mehr als nur einen Zwischenstopp lohnt.

Das Zentrum ist eher schlicht und modern, Botschaften und Regierungsgebäude stehen neben riesigen Bürotürmen und Shoppingcentern. Aus der Kolonialzeit stehen nur noch wenige Gebäude. Eines davon ist das Kandt-Haus, das seit Dezember eine Ausstellung über die deutschen Wurzeln der Stadt beherbergt - Kigali wurde vor 100 Jahren vom deutschen Afrikaforscher Richard Kandt gegründet. Außerhalb des Zentrums wird es bunter und lebendiger. Neben Cafés und Boutiquen, in denen oft schöne Handarbeiten von Frauen- und Witweninitiativen verkauft werden, liegen kreative Restaurants, Bars und Clubs. Laut wird es auf dem Kimironko-Markt im Stadtviertel Remera. Wer sich zwischen Bergen von Obst und Gemüse durchschiebt, entdeckt in den hinteren Gassen des überdachten Budenmarktes zwischen Haushaltswaren und Spielsachen aus China auch die Kitengestoffe, aus denen Designerin Joselyne Umutoniwase ihre Kleider schneidert. Ihre neue Kollektion läuft gut. "Ich bin stolz auf das, was wir erreicht haben", sagt Umutoniwase und wird dann nachdenklich: "Natürlich ist nicht alles positiv. Manchmal packt mich auch die Nostalgie und ich vermisse alte Häuser, die ich früher mit Kigali verbunden habe."

Kigali ist eine Stadt auf vielen Hügeln. Fast immer muss man hier einen Berg hinunter und dort einen anderen wieder hinauf. Am schnellsten kommt man auf einem der vielen Motorradtaxis zum Ziel, die sich rasant durch den Stadtverkehr schlängeln. Wer das Risiko ein wenig kalkulierbarer machen will, bestellt sich über eine Telefon-App eines der "Safe Motos". "Ich darf nicht schneller als 60 fahren," erklärt Fahrer Darius durch seinen Helm. "Meine Geschwindigkeit und andere Daten werden über mein Telefon aufgezeichnet." Seit 2012 transportiert er Kunden auf dem Motorrad quer durch die Stadt, seit 2015 für das ambitionierte Unternehmen, das den Motorrad-Taxi-Markt Afrikas ähnlich aufmischt wie Uber die Taxiszene. An einem durchschnittlichen Tag verdient Darius zwischen 8000 und 10 000 Ruanda-Franc, bis zu zehn Euro. "Alles in Kigali verändert sich. Die Straßen, die Schulen, das Gesundheitssystem, die Häuser. Und das rasend schnell," sagt der Familienvater. "Doch die Löhne der Leute steigen nicht so schnell, und viele können sich das Leben hier nicht mehr leisten." Darius kennt Menschen, die sind aus Kigali weg und zurück ins Dorf gezogen, weil sie sich von der Stadt abgehängt gefühlt haben.

Tatsächlich ist es vor allem die junge Generation, die vom Boom profitiert. Sie gilt als technikaffin und modern. Volkswagen hat in Kigali gerade ein neues Werk eröffnet. Der Konzern will hier nicht nur Autos verkaufen, er arbeitet auch an Car-Sharing- und Ride-Hailing-Konzepten, über die die Städter private Mitfahrgelegenheiten finden können. Mit der Entwicklung der Mobile-App hat VW ein ruandisches Start-up-Unternehmen beauftragt - keine internationale Firma.

"Jeder hier ist motiviert, sein Leben zum Besseren zu verändern", sagt Perpetue Mukamusinga. "Und kaum einer kann sich dieser Entwicklung entziehen." Die junge Frau lacht, während sie ein Blatt in den Milchschaum des Cappuccinos zeichnet. Mukamusinga ist Ruandas erste weibliche Barista. "Ruandas Spezialitätenkaffee kann es mit den besten der Welt aufnehmen", schwärmt sie. Heute arbeitet sie in einem von Kigalis angesagtesten Coffeeshops, im Café von Question Coffee, und bildet dort andere Baristas aus. Das junge Unternehmen, das von der Kaffeeplantage bis zum Tresen bevorzugt Frauen anstellt und damit unterstützt, exportiert die besten Bohnen nicht nur ins Ausland, sondern serviert auch in Kigali besonders guten Kaffee.

"Ruander haben lange Jahre überhaupt keinen Kaffee getrunken. Unser Nationalgetränk war der Tee", erzählt die junge Ruanderin. Manchmal fährt Perpetue Mukamusinga mit einer großen Kaffeemaschine aufs Land. Dorthin, wo im April und Mai die Kaffeebäume mit roten Kirschen voll hängen. Dann lädt sie die Menschen ein, ihren eigenen Kaffee zu probieren. Ab und zu hört sie noch das Vorurteil, Kaffee mache krank und könne das Herz anhalten. "Dieser Unsinn stammt noch aus der Kolonialzeit", erklärt die 30-Jährige. "Damals war Kaffee nur für den Export bestimmt." Für die Ruander war er zu schade.

© SZ vom 19.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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