Das ist er wohl, der magische Moment. "Na zdravi", sagt der junge Mann in der grünen Weste, der seine roten Haare zu einem Zopf gebunden hat. Mehr als eine Stunde lang hat er die Gruppe durch Hallen, Säle und Gänge geführt, vorbei an der gigantischen Flaschenfüllanlage, an kupfernen Kesseln und hölzernen Fässern. Bei den Fässern stand ein Alter auf den nassen Bodenplatten und zapfte aus einem der schweren Behältnisse für jeden einen kleinen Becher einer goldgelben, schäumenden Flüssigkeit. "Na zdravi." Zum Wohl. Und wirklich - das Getränk ist unvergleichlich. Echtes Pilsner Urquell, ungefiltert, naturtrüb und nicht pasteurisiert.
Natürlich schmeckt es nirgends so gut wie an diesem Ort, rund 15 Meter unter der Erde in einem der durchfeuchteten, neun Kilometer langen Gänge, die sich in Pilsen direkt unter dem Gelände der weltberühmten Brauerei befinden. Ein paar flüchtige Augenblicke lang darf man sich dem Gefühl hingeben, einem Mythos an seinem Ursprungsort begegnet zu sein. Aber Mythen lösen sich, wenn man ihnen nahe kommt, meist rasch in Banalitäten auf.
Die alten Gänge gibt es noch, aber sie werden heute hauptsächlich für die Touristen gebraucht. Das Bier wird, von einer Sondermenge abgesehen, zum Gären nicht mehr hierhergebracht, es fermentiert in einer Batterie blitzblanker Stahltanks draußen im Hof. Und die Becher, die den Besuchern zum Trunk gereicht werden, sind aus Plastik. Beim Abschied fallen sie mit einem seltsamen Knatschgeräusch übereinander in den Abfalleimer, der die Form eines halben Bierfasses hat.
Dennoch kann, wer Pilsen kennenlernen will, die Brauereibesichtigung kaum auslassen. Das Bier hat diese Stadt nun einmal bekannt gemacht, und was man hier über seine Herstellung erfährt, ist auch höchst interessant.
Bekanntlich war es ein Niederbayer, der Braumeister Josef Groll aus Vilshofen, ein 29-Jähriger von rauer Art, der am 5. Oktober 1842 zum ersten Mal in Pilsen ein untergäriges Lagerbier erzeugte, in einer mächtigen Braupfanne, die noch vorhanden ist. Er nahm dafür ein nur leicht gedarrtes und deshalb helles Malz her, dazu echten Saazer Hopfen, das weiche Pilsner Wasser und eine besondere Hefe - bis heute bürgt diese Mischung für hohe Qualität.
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Bis dahin hatten auch in Pilsen die Bürger, die im Mittelalter in großer Zahl vom böhmischen König das Braurecht erhalten hatten, ein dunkles, obergäriges Gesöff hergestellt. Es war zum Teil so miserabel, dass 1838 auf dem großen Platz vor dem Rathaus aus Protest 36 Hektoliter öffentlich weggeschüttet wurden - ein Wendepunkt in der Stadtgeschichte, der zur Gründung des Bürgerlichen Bräuhauses und zur Berufung des Meisters Groll führte.
Aufstieg zur Industriemetropole
Pilsen war damals eine beschauliche Provinzstadt der Habsburger Monarchie, die die wilden Zeiten der Hussiten-Kriege und des Dreißigjährigen Krieges längst hinter sich hatte. Vor ihr lag der Aufstieg zur Industriemetropole. Er verdankte sich weniger dem Bier als dem einheimischen Ingenieur Emil Ritter von Skoda, der 1869 eine zehn Jahre zuvor gegründete Maschinenfabrik übernahm und daraus einen Weltkonzern machte.
Skoda produzierte Dampfmaschinen, Fabrikanlagen, Eisenbahnzüge, später auch Rüstungsgüter; im Ersten Weltkrieg war es die größte Waffenschmiede Österreich-Ungarns. Die Autofabrik, die den Namen weitertrug, kam erst 1925 dazu, heute operiert sie wieder getrennt unter der Regie des VW-Konzerns. Die eigentliche Skoda-Fabrik aber belegt in Pilsen noch immer ein ganzes Stadtviertel und baut inzwischen auch Straßenbahnen und Atomkraftwerke.
Pilsen war schon immer ein Ort der technischen Innovation. Hier wurde in Böhmen das erste Buch gedruckt, hier fuhr die erste Eisenbahn, hier wird auch heute modernste Technologie erprobt. Als Industriemetropole Westböhmens entfaltet die Stadt ihre Ausstrahlung bis nach Bayern hinein, wo Regensburg und Nürnberg von alters her bedeutende Handelspartner sind.
Historisches rund um den Dom
Der St.-Bartholomäus-Dom mit seinem 102 Meter hohen Turm dominiert einen der größten Marktplätze Europas, und hier sowie in den schachbrettartigen Seitengassen ist die historische Seele der Stadt zu finden. Wer tagsüber oder abends durch diese Gassen schlendert, gewinnt rasch das Gefühl, dass hier das menschliche Maß noch gilt. Fußgänger beherrschen den Platz, nicht Autos, ein Anflug von Beschaulichkeit ist noch da.
Mit seinen rund 163.000 Einwohnern hat Pilsen offenbar jene glückliche Größe und Struktur, die es vor dem Angriff der internationalen Markenboutiquen verschont, sodass es im Zentrum noch kleine Buchhandlungen, Porzellangeschäfte, Blumen- und Kleiderläden sowie Reisebüros gibt.
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Auch mit Kneipen, Cafés, Musikclubs und Restaurants ist das historische Geviert im Zentrum bestens bestückt. Am Abend tummeln sich junge Leute in den Straßen, zum guten Teil wohl Studenten, von denen es hier etwa 19.000 gibt.
Im Schein der Tischlampe an einem bequemen Platz ein ruhiges Mahl einzunehmen und dazu ein Pilsner zu trinken, ist freilich nicht so einfach. Das Bier gibt es natürlich überall, aber es ist kaum ein Lokal zu finden, in dem nicht eine übel dröhnende Musik einem den Dämmerschoppen verleidet.
Auch in den historischen Gaststätten, der Fuhrmannskneipe U Salzmannu zum Beispiel oder der ans Brauereimuseum angegliederten Schenke Na Parkanu, sind heutzutage Flachbildschirme an den Wänden installiert, die das Gedöns irgendeines sportlichen Wettkampfs auf glatt gelackte, seelenlose Brauereimöbel werfen.
Gemütliche Lokale sind Mangelware
Nach alter Art geführte, gemütliche Lokale scheinen heute ebenso museumsreif zu sein wie jene Kneipenszene aus den 1930er Jahren, die im Brauereimuseum mit Kleiderpuppen, Holzofen und Billardtisch nachgestellt ist. Warum dann nicht gleich zu McDonald's abschieben, wo doch die Filiale in Pilsen bei aller Hundsgewöhnlichkeit mit einer kleinen Inschrift und alten Fotos auf eine kleine Besonderheit hinweisen kann? Der Amerikaner Ray Kroc, der die Fastfood-Kette zum Welterfolg führte, wurde zwar bei Chicago geboren, seine Vorfahren stammten aber aus einem Dorf bei Pilsen.
Wenigstens gibt es auch das Anspruchsvolle noch, die schönen alten Gebäude etwa. Eine der größten Synagogen der Welt steht hier, 110 Jahre alt, im maurisch-romanischen Stil; die vormals große jüdische Gemeinschaft von mehr als 3200 Menschen wurde freilich durch den Nazi-Terror auf 116 Personen dezimiert.
Sehenswert sind auch andere mächtige Bauten des späten 19.Jahrhunderts, so das städtische Vereinshaus, in dem sich ein großes Kaffeehaus befindet. Am besten offenbart aber der große Platz in der Mitte die Geschichte der Stadt - vom gotischen Dom und dem Renaissance-Rathaus über die Pestsäule aus der Habsburgerzeit bis zum Brutalo-Beton der kommunistischen Ära.
US-Konzern schluckte Pilsener Urquell
Auch das Zeitalter der Globalisierung hinterlässt Spuren. Einst hatte das heimische Gebräu so sehr die Bierkultur geprägt, dass Pils und Pilsner allgemein zum Begriff für helles Lagerbier wurden, und die Erfinder sahen sich 1898 veranlasst, sich den Begriff des Pilsner Urquells als Schutzmarke zu sichern.
Heute erfährt, wer das Besucherzentrum der Brauerei betritt, als Erstes, dass die große Firma mittlerweile ein Teil eines noch viel größeren Weltkonzerns ist. Nach der Wende von 1989 wurde das Pilsner Brauhaus privatisiert, 1999 kam es an die South African Breweries, die 2002 mit dem US-Unternehmen Miller fusionierten und jetzt nach Anheuser-Busch die zweitgrößte Brauereigruppe der Welt sind. Pilsner Urquell steht in einer Schaugalerie im Eingangsbereich jetzt in einer Reihe mit Bieren aus ganz Europa sowie aus Afrika, Asien und Amerika.
Informationen
Anreise: Von München nach Pilsen mit der Bahn in gut vier Stunden für 48 Euro für die einfache Fahrt Brauereibesichtigung: U Prazdroje 7, 304 97 Plzen, Tel.: 00420/377062888, www.prazdroj.cz; www.plzen.eu/de
Weiter geht die Reportagen-Reise zum Skifahren nach Oberwiesenthal.