Neulich in Osttirol:Nacktes Entsetzen

Abkühlung nach dem Saunabesuch muss sein - zur Not auch auf dem Balkon des Berghotels. Da nähert sich ein bedrohliches Geräusch.

Dominik Prantl

Anders als die meisten Bergunterkünfte, wo viele Besucher erst jegliches Benehmen und schließlich ihr Schamgefühl fahrenlassen, ist die Adlerlounge auf 2621 Metern in Osttirol ein Ort der guten Manieren. Das Restaurant ziert seit kurzem die höchste Gault-Millau-Haube Österreichs, statt in Matratzenlagern nächtigt der Besucher in großzügigen Vier-Sterne-Appartements, und bevor der Gast zum Vier-Sterne-Dinner schreitet und sich das eröffnende Lachs-Carpaccio kredenzen lässt, nutzt er die private Mini-Infrarotsauna.

Nun gehört zu jedem Saunagang eine angemessene Abkühlung. Nur: Ein Tauchbecken gibt es nicht, auch keine Veranda, doch vor dem Fenster liegt aufgetürmt der Schnee und scheint den aufgeheizten Körper anzubetteln: Schmilz mich!

Also rauf auf den Badhocker und durch das Fenster hinüber in die kalte Winternacht, sieht ja keiner, in dieser Höhe, zu dieser Uhrzeit. Der Schnee sticht an den Füßen wie tausend Nadeln; beim Suhlen - das Schwein im Manne hat längst gesiegt - beißt der Schnee überall dort an, wo der Leib sonst vor Kälte besonders gut geschützt wird.

Laut pfeift der Wind, als plötzlich eine Pistenraupe mit grellen Scheinwerfern und ordentlichem Tempo um die Ecke biegt. Einen kurzen Moment scheinen Pistenraupe und Teilzeitnudist Auge in Auge zu verharren, ehe Letzteren das nackte Entsetzen packt. Mit einem Satz ist er am Fenster, mit einem zweiten zurück im Bad, wo kaum mehr der Wind, aber das höhnische Lachen jener Menschen zu hören ist, die sich Freunde nennen.

© SZ vom 30.12.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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