Das Medical Valley im Großraum Nürnberg-Erlangen ist eine der wichtigsten Innovationsschmieden der Medizintechnik. Und das Medical Valley ist überzeugt, dass die Zukunft der Medizin in der Digitalisierung des Gesundheitswesens besteht. Mit der neuen, digitalen Medizin ist die Hoffnung verbunden, Lebensqualität zu verbessern, vielleicht sogar Leben zu retten. Auf der anderen Seite steht die Sorge um die Sicherheit der sensibelsten Daten, die ein Mensch von sich preisgeben kann.
Noch aber klaffen in der E-Health-Branche Anspruch und Wirklichkeit erheblich auseinander. Während Unternehmen an selbständigen OP-Robotern oder Medikamenten-Mikrochips unter der Haut forschen, werden Patientendaten immer noch mit dem Stift in die Akte notiert und der Untersuchungsbericht dem Kollegen gefaxt. "Das sind hier ganz andere Zyklen im Innovationsbereich", sagt Bastian Bleisinger mit Blick auf das Gesundheitssystem - und seufzt ein wenig. Bleisinger ist Geschäftsführer der Advanova GmbH mit Sitz in Erlangen, die ein System für eine mobile Patientenkurve entwickelt hat. Inzwischen hat er zehn Kliniken überzeugt, das System anzuwenden, bei dem Arzt, Krankenschwester oder Physiotherapeut gleichzeitig Zugriff auf die Daten haben und parallel noch die Werte aus dem Labor der Akte hinzugefügt werden.
Aber ist das in Zeiten von Netzwerken und Clouds nicht längst Standard? Nein. Bleisinger schätzt, dass in 80 Prozent der deutschen Krankenhäuser diese Kurven immer noch von Hand eingetragen werden. Dabei könnten durch die sofortige Verfügbarkeit aller Patientendaten Mehrfachuntersuchungen vermieden, Diagnosen besser gestellt, Behandlungen schneller begonnen und die Arbeitszeit könnte rationeller genutzt werden.
Bei der Digitalisierung der Medizin hakt es weniger an der technischen Machbarkeit als an der Umsetzung in die Praxis. "Die Überführung der Innovationen in die Regelversorgung ist langwierig", sagt Jörg Trinkwalter, Mitglied der Geschäftsleitung im Medical-Valley-Verein. Bis sich Neuerungen im Gesundheitswesen etablieren, braucht es Zeit, Geduld und nicht zuletzt Geld. Nötig sind Studien, Zulassungen, Verträge zur Kostenerstattung und dann Ärzte, Kliniken und Patienten, welche die neuen Möglichkeiten auch nutzen.
Sensoren im Schuh zeigen, wie jemand geht - und was der Therapeut tun kann
Es gibt im fränkischen Valley Start-ups, die auf diesem Weg sehr weit sind. Das Unternehmen Portabiles HCT etwa hat ein System entwickelt, mit dem sich medizinische Ganganalysen verbessern lassen. Solche Gangtests gibt es in der Medizin seit Langem. Bislang hängen die Testergebnisse weitgehend von der Beobachtung des Arztes ab. Portabiles hat Sensoren entwickelt, die in die Schuhe der Patienten integriert werden; sie sammeln exakte Daten und bemerken Veränderungen, die dem menschlichen Auge nicht auffallen. Im klinischen Umfeld wird das Sensorsystem bereits verwendet. Künftig sollen es Patienten auch zu Hause nutzen können. Der Sensor im Schuh soll kabellos Daten an ein Portal liefern, auf das der behandelnde Arzt oder Physiotherapeuten Zugriff haben. Die Einschätzung eines Arztes basiert so nicht auf einem Fünf-Minuten-Test, sondern auf Daten, die über Monate erhoben werden.
Der Gang gibt bei vielen Erkrankungen Auskunft über den Zustand des Patienten. "Bei Parkinson, bei MS, aber auch bei einem Schlaganfall, bei Muskelverletzungen oder orthopädischen Behandlungen", sagt Chantal Herberz, Produktmanagerin bei dem Nürnberger Unternehmen. Der Gangsensor kann auch Stürze bei Senioren vermeiden helfen. "Das System misst Gangparameter wie die Schrittlänge, wie hoch man den Fuß hebt, wie man abrollt. Wenn sich diese Parameter erheblich verschlechtern, erkennt der Arzt den Handlungsbedarf", erklärt Herberz. Das könnte dazu beitragen, dass Senioren länger in den eigenen vier Wänden bleiben können.
Das Prinzip, mit Sensoren den Körper zu vermessen und diese Ergebnisse durch einen Algorithmus interpretieren zu lassen, lässt sich in unterschiedlichen Bereichen einsetzen. Das Nürnberger IT-Systemhaus Voigtmann bietet unter dem Namen Itos ein System an, das das menschliche Auge untersucht. Ohne medizinisches Fachpersonal. Im Juni wurde die erste Station bei einem Optiker in Erlangen in Betrieb genommen. "Dies ist ein Meilenstein im Rahmen der Anwendung dieser digitalisierten Medizin", sagte Peter Voigtmann, der geschäftsführende Gesellschafter.
Itos untersucht Menschen mit Diabetes auf Anzeichen einer Erblindung. Statistisch gesehen verliert in Deutschland alle vier Stunden ein Diabetiker sein Augenlicht. Bei rechtzeitiger Diagnose der Retinopathie ist die Erblindung vermeidbar. Die Vorsorgeuntersuchung könnte der neue Medizinautomat übernehmen. Er macht nicht mehr nur die Fotos, sondern analysiert sie auch. Stellt er Auffälligkeiten fest, empfiehlt er einen Besuch beim Facharzt. Itos könnte so die Zahl der Arztbesuche reduzieren und zugleich Menschen motivieren, sich häufiger untersuchen zu lassen. Das ginge dann nämlich in der Mittagspause beim Optiker um die Ecke.
Die Digitalisierung der Medizin hat also das Potenzial, Menschen zu helfen, Krankheiten zu heilen, das Gesundheitssystem billiger zu machen. Aber bringt der Fortschritt nicht auch Kontrollverlust? Kann irgendwann jeder im Netz nachschauen, wie es um die Leberwerte des Nachbarn steht? "Mit der Digitalisierung der Medizin sind ein paar ethisch sehr schwierige Fragen verbunden", räumt Jörg Trinkwalter ein. Hundertprozentige Sicherheit für gespeicherte Daten gebe es nicht. Er sei aber "der festen Überzeugung, dass die Vorteile überwiegen". Zumal man mit den richtig spannenden Dingen in der E-Health-Medizin in Deutschland noch gar nicht angefangen hat. "Der nächste wirklich große Schritt in der Medizin wird die Datenanalyse", glaubt Advanova-Geschäftsführer Bleisinger. Aus den gewaltigen Datensätzen ließen sich Erkenntnisse ziehen, von denen die Mediziner bis dato keine Ahnung haben. Etwa, welche Merkmale auf welche Erkrankung hinweisen, aber auch, welche Therapien bei welchen Patienten am besten funktionieren. Bei diesen Big-Data-Analysen geht es darum herauszufinden, was Menschen krank und was sie wieder gesund macht. "Bevor wir in Big Data machen können, brauchen wir aber erst mal die Daten", sagt Advanova-Mann Bleisinger. Und das nicht mit der Hand in Papierkladden notiert.