Lissabon literarisch:"Er war völlig verrückt"

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Lieblingscafés von verstorbenen Dichtern haben etwas Magisches - vor allem in Lissabon: Auf Dichterspuren durch die portugiesische Hauptstadt.

Kristina Maidt-Zinke

Im atemberaubend engen, aber märchenhaft gekachelten und verspiegelten Toilettenraum der Pastelaria Ertilas, wo vermutlich seit hundert Jahren fast nichts verändert wurde, erwacht wieder einmal der Gedanke, einen Reiseführer für Unzeitgemäßes zu schreiben. Das Café mit angeschlossener Delikatessenhandlung im Lissabonner Stadtviertel Campo de Ourique ist weder legendenumwoben noch angesagt, und es ist, abgesehen vom WC, noch nicht einmal dekorativ.

Eine inspirierende Stadt: Lichtspiele in Lissabon (Foto: Foto: AP)

Aber man kann hier die kostbare Erfahrung verlangsamter oder stillstehender Zeit machen. Mit einem imaginären Schild von der Art, wie man es sonst für Hunde und ihre Herrchen anbringt, scheint hier ein Phantom namens Fortschritt höflich gewarnt zu werden: "Ich muss leider draußen bleiben."

Dunkel ist der Raum und unscheinbar die Einrichtung, beruhigend die Gelassenheit der gastronomischen Routine: Kaffee, Wein und kleine Mahlzeiten, die noch nicht Snacks heißen. Reif bis betagt sind die Gäste - mit einer Ausnahme: Die Mitarbeiter des Pessoa-Museums, das gleich um die Ecke liegt, kommen jeden Tag.

Hier wenigstens können sie noch etwas von der Atmosphäre einatmen, in der Lissabons kultisch verehrter Dichter-Flaneur Fernando Pessoa sich im frühen 20. Jahrhundert bewegte. Die Gedenkstätte, die man in seinem letzten Domizil für ihn errichtet hat, ist dagegen einer der modernsten, kühlsten, ja sterilsten Orte dieser sonst so wundersam die Vergangenheit verschleppenden Stadt.

Doch wer in Lissabon auf literarischen Pfaden wandeln will, kommt um das Museum nicht herum. Pessoa, der ewig Rastlose, im Brotberuf Handelskorrespondent, mietete im Jahre 1920, nach mehr als zwei Dutzend Umzügen, eine Etage in der Rua Coelho da Rocha Nr. 16 zusammen mit Mutter und Halbgeschwistern. Er verbrachte dort seine letzten 15 Lebensjahre, doch schon bald nach dem Einzug ereilte ihn eine klinische Depression.

An der freundlich-bürgerlichen Wohngegend kann es nicht gelegen haben. Man gelangt dorthin mit der legendären Linie 28, einer der letzten "amarelos", der alten gelben Straßenbahnen. Steht man vor dem Haus, muss man sich wappnen für eine Erfahrung, die im Gästebuch jemand so beschrieben hat: "There is no magic here. Pessoa is not here. A shame."

Nun, die Casa Museu Pessoa, in den frühen Neunzigern entkernt und durchgestylt, ist jedenfalls ein lebendiges Kulturzentrum geworden und beherbergt neben dem Pessoa-Archiv eine beeindruckende Bibliothek europäischer Lyrik. Außerdem ein paar wenige persönliche Relikte des Autors wie seine Schreibmaschine oder seinen letzten Personalausweis.

Der Geist des Poeten war ja schon zu dessen Lebzeiten viel zu unruhig, um sich an ein Haus oder an Gegenstände zu ketten. Diesem Geist war sogar ein einziger Mensch als Wohnsitz zu eng, so dass er zusätzlich fiktive Inkarnationen brauchte, um sich zu entfalten: den Dichter Alberto Caeiro und den Arzt Ricardo Reis, den weitgereisten Ingenieur Álvaro de Campos und den Hilfsbuchhalter Bernardo Soares. Im Museum kann man Visitenkarten besichtigen, die Pessoa für seine "Heteronyme" oder Alter egos drucken ließ, und Mitteilungen, die er von ihnen erhielt.

"Er war völlig verrückt", sagt die Museumsangestellte und deutet auf ein Familienfoto, auf dem Pessoas Großmutter zu sehen ist: Von ihr habe er die Wirrköpfigkeit geerbt.

Noch verrückter allerdings seien manche seiner Anhänger, die man ständig daran hindern müsse, gepresste Trockenblumen in die museumseigenen Bücher zu schmuggeln. Als diskreterer Pessoa-Verehrer vertieft man sich fasziniert in die Patent-Urkunde, die der Schriftsteller für die Erfindung einer gemeinsamen, aus nur neun Buchstaben bestehenden Sprache für Portugiesen, Engländer und Franzosen erhielt: Noch immer harrt dieses Spezial-Esperanto der linguistischen Erforschung. Hübsch ist auch das Tischfußballspiel, das Pessoa in verschiedenen Gestalten gegen seine Kritiker antreten lässt. Aber bald zieht es einen wieder hinaus in die Stadt, die des Dichters eigentliche Wohnung war.

Falls er noch irgendwo herumgeistert, dann in den Kaffeehäusern, in denen er Tage und Abende verbrachte. Das ruhmreiche Café Brasileira, wie das gesamte Chiado-Viertel nach dem Großbrand von 1988 als Touristenmagnet herausgeputzt, hat ihn als Bronzefigur auf der Terrasse verewigt, aber als natürliche Person würde er hier wohl gar keinen Platz mehr finden: Wie in so vielen ehemaligen Literatencafés hat auch hier die internationale Urlaubs-Schickeria längst die Stammgäste vertrieben.

Also besser gleich zum Martinho da Arcada an der Praça do Comércio. Das Lokal ist weitläufig, dunkel und würdevoll, wird noch immer von Einheimischen frequentiert und präsentiert als Wanddekoration eine wunderbare Sammlung von Fotos des Dichters, der sich so ungern ablichten ließ. Der Tisch, an dem er am liebsten saß, wird ihm je nach Gästeaufkommen freigehalten, mit Kaffeetasse, Schnapsglas und Aschenbecher.

Hier schrieb er viele seiner Gedichte und brütete über literarischen Entwürfen, und zwar nach dem Motto "Das bisschen, was ich esse, kann ich auch trinken", bis seine Familie den Wirt des bis dahin nur auf Getränkeausschank eingerichteten Lokals bat, dem Schreib- und Trunksüchtigen doch mal ein paar Spiegeleier zu braten, damit er nicht vom Fleische fiel.

Das war, wie die Legende besagt, die Geburtsstunde der Speisegaststätte Martinho da Arcada. Die mit Käse servierten Spiegeleier wurden später zum Bestandteil eines "Pessoa-Menüs", das noch heute auf der Karte steht, aber aus irgendeinem Grund nicht mehr serviert wird. Dafür gibt es solide portugiesische Hausmannskost.

In der Nachfolge Pessoas haben auch andere Autoren hier ihre gastronomische Zuflucht gefunden, zum Beispiel Nobelpreisträger José Saramago oder der italienische Lissabon-Liebhaber Antonio Tabucchi. Der Pessoa-Liebhaber jedoch fährt weiter zum Largo São Carlos, wo das Geburtshaus des Dichters und das klassizistische Theater gleichen Namens einander gegenüberliegen. Oder nach Belém, um sich am Grabmal des Nationaldichters Luis de Camões im Kreuzgang des Hieronymusklosters in die lyrische Hochblüte der Renaissance zurückzuträumen und anschließend dem benachbarten Grabmal Pessoas seine Referenz zu erweisen.

Eine andere, charmante Entdeckungstour führt mit Felix Krull und dessen Erfinder Thomas Mann durch ein imaginiertes Lissabon. Im Grandhotel Avenida Palace an der Avenida da Liberdade hätte der Hochstapler noch vor zwanzig Jahren ohne weiteres nächtigen können. Im Gästebuch tobte damals ein Streit zwischen jenen, die ein Zimmer ohne Fernseher als Zumutung empfanden, und anderen, die sich auf einer bezaubernden Zeitreise wähnten.

Die erstere Fraktion hat natürlich gesiegt; mittlerweile ist das Avenida Palace ein vollsaniertes, im internationalen Antik-Stil ausgestattetes Nobelhotel mit allem Komfort. Der unwirklich stille Frühstückssaal von früher mit einer Brigade stoisch ausharrender, weißbefrackter Kellner zwischen angestaubten Brokattapeten, Damast-Draperien und mattem Silbergefunkel ist um Lichtjahre entfernt von dem musikberieselten Büffet-Gerenne, das einem heute in vielen Hotels die Morgenstunde vergällen kann.

Wer es - durch solch vulgäre Usancen irregeleitet - wagt, sich aus dem opulenten Obst-Arrangement auf der Anrichte eigenhändig eine Orange zu nehmen, fühlt sich in eine imaginäre Romanszene zurückversetzt. Denn schon bald taucht ein dienstbarer Geist neben dem Gast auf, dem ihm wortlos, aber höflich den Teller mit der Frucht entwendet, um kurz darauf mit einem Silberteller zurückzukehren, auf dem die Apfelsine, mit Silberdeckchen dekoriert und nach allen Regeln der Kunst filetiert, zu einem graziösen Ornament angeordnet ist.

Die Schilderung der feudalen Hotelsuite, die Thomas Manns Protagonist Felix Krull mit "kindlicher Freude" in Besitz nimmt, seine Beschreibung des Rossio-Platzes mit seinem "in sonderbaren Wellenlinien dahingehenden Mosaikpflaster" oder des Klosters Belém und seiner "gleichsam von Engelshänden aus mild patiniertem weißem Sandstein geschnitzten Märchenpracht" sind von einer solchen atmosphärischen Dichte, dass man sich kaum eine schönere Reiselektüre für die portugiesische Hauptstadt denken kann.

Hätte Thomas Mann vor der Fertigstellung der Lissabon-Kapitel eine Ortsbesichtigung vorgenommen, wäre er gewiss auch in der Livraria Buchholz gelandet. Karl Buchholz, 1901 in Göttingen geboren und 1992 in Kolumbien gestorben, hatte in seiner berühmten Berliner Buch- und Kunsthandlung während der Nazizeit verfemte Künstler ausgestellt und deren Werke durch Auslandsverkäufe vor der Vernichtung gerettet.

Als er emigrieren musste, gründete er - mitten im Zweiten Weltkrieg - internationale Buchhandlungen in Bukarest, Madrid, Bogotá und Lissabon. Dort wurde die Livraria Buchholz 1943 an der Avenida da Liberdade eröffnet. Als sie 1965 in die Rua Duque de Palmela umzog, geschah das mitsamt dem würdevollen Vierziger-Jahre-Interieur aus Holz und Leder, das bis heute unverändert geblieben ist. Wer hier eintritt, atmet den Duft, den Buchläden zu Thomas Manns Zeiten verströmten, und findet dabei ein aktuelles, freilich überwiegend portugiesisches Sortiment vor.

In der internationalen Ecke stehen auch ein paar deutsche Bücher, aber der gefragteste Titel, Fernando Pessoas 1926 auf Englisch verfasster, erst 1992 aus dem Nachlass edierter Stadtführer "Mein Lissabon - Was der Reisende sehen sollte", ist in fast allen Sprachen ausverkauft. Das Bändchen, das in einer wunderschönen Ausgabe mit vielen Archivfotos vorliegt, eignet sich nur bedingt als Leitfaden durch das heutige Lissabon, schon deshalb, weil der Dichter seine Stadtrundfahrt im Automobil unternimmt und weil er auf topographische Exaktheit wenig Wert legt.

Es ist aber hinreißend zu erleben, wie er sich mit dem damals gängigen Reiseführer-Stil gleichsam kostümiert, wie er Marginalien aufbläht und in Inventarisierungen schwelgt. So erklärt er etwa das Artilleriemuseum zum "bemerkenswertesten Museum von Lissabon" und zählt beim "Museu dos Coches", dem vor 20 Jahren noch zauberhaft angestaubten, inzwischen sauber renovierten Kutschenmuseum, jede einzelne Kutsche auf.

Er beschreibt jedoch auch unwiederbringlich Verlorenes, wie den seinerzeit sensationellen, exklusiven Club Maxim's im Palácio Foz: "In Portugal ist es das erste Haus am Platz. Ein Radioempfänger wurde hier installiert."

Die Portugiesen, behauptet Ronald Grätz, der Direktor des Lissabonner Goethe-Instituts, lieben ihre Dichter, aber sie lesen nicht gern. Um so begeisterter hören sie Radio. Deshalb setzt man neuerdings verstärkt auf das Medium Funk, um dem einheimischen Publikum deutsche Kultur und Literatur näher zu bringen und interkulturelle Begegnungen zu vermitteln.

Das Internet hat in Portugal zu einer enormen Radio-Renaissance beigetragen; das Hörspiel als "Teatro Radiofónico" erlebt eine erstaunliche Wiedergeburt, und die Goethe-Filiale Lissabon ist dabei, ein "Hör-Institut" zu etablieren.

Gleichwohl lohnt sich ein Besuch in den real existierenden, modernen Räumen hinter der noblen Palastfassade am Campo dos Mártires de la Patria: Der schattige Garten wird im Sommer als Lokal bewirtschaftet und für Jazzveranstaltungen genutzt.

Das Institut ist auch die richtige Adresse, wenn man etwas über die jüngere Literaturszene Portugals erfahren möchte. Aber wer interessiert sich schon dafür, wenn um ihn herum die alte, in ihre Vergangenheit verliebte Stadt Lissabon "wie ein schönes Traumgesicht" auf sieben Hügeln liegt? Und so hat Pessoa auch diesmal wieder das letzte Wort.

Informationen:

Anreise: Hin- und Rückflug mit Lufthansa, TAP, Iberia, Air Berlin, LTU oder German Wings von vielen deutschen Flughäfen nach Lissabon ab ca. 200 Euro.

Weitere Auskünfte: Portugiesisches Fremdenverkehrsamt, Kaiserhofstr. 10, 60313 Frankfurt, Tel.: 0180/500 49 30 (12 Cent/Min.), www.visitportugal.com

© SZ vom 8.11.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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