Kunst & Tourismus auf Island:Ein Kaleidoskop aus Wassersäulen

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Mehr eine Liebeserklärung, denn ausschließlich Kunst: Die New Yorkerin Roni Horn schuf auf Island ihre "Bibliothek des Wassers".

Jörg Häntzschel

Island hat nur 300 000 Einwohner, aber es ist 1700-mal so groß wie Manhattan. Die Künstlerin Roni Horn ist in der nördlichen Upper West Side aufgewachsen, dort, wo es sozial bergab geht. Noch weiter nördlich, in Harlem, betrieb ihr Vater ein Pfandhaus. Ein polnischer Jude, der den Schwarzen Geld lieh: Ihr schaudert heute noch.

Nach Harlem zu fahren und Angst zu haben, vergewaltigt zu werden, das war ein Risiko, auf das sie gern verzichtet hätte. Doch die Bedrohung, die von Island und seinem Wetter ausgeht, dem Sturm, dem Nebel und dem Schnee, findet sie berauschend. "Man muss das Wetter verstehen, seinen Weg hindurch finden."

Die Sonne scheint, aber der Wind ist so stark, dass man um sein Gleichgewicht ringt. Horn hat kurze Haare, sie trägt eine dicke Jacke über einem Fleece-Pullover, Khakihosen und Männerschuhe, und die Wucht, mit der sie die Tür des Toyota Landcruisers zuschlägt, die Entschlossenheit, mit der sie breitbeinig um den Wagen stapft, lässt keinen Zweifel, dass sie dem Wetter gewachsen ist.

Roni Horn lebt in Greenwich Village, ihr Atelier ist in Chelsea, wo auch viele andere New Yorker Künstler arbeiten. Doch ihre Gesellschaft sucht sie nicht gerade. "Meistens bin ich allein. Das ist ein Ort, den ich sehr mag." Und wenn es sie wegzieht aus New York, "dem Wahnsinn und dem Druck", dann nicht in die Wärme.

1975 kam sie zum ersten Mal nach Island, seitdem kehrte sie jedes Jahr zurück. Sie vergleicht ihre Reisen mit dem Vogelzug und riskiert gelassen das Pathos dieses Bilds. In Island war sie mit Motorrad und Zelt unterwegs; reiste sechs Wochen lang mit der Isländerin Margrét Haraldsdóttir Blöndal von einer warmen Quelle zur nächsten und machte jedesmal dasselbe Foto von ihr; sie sammelte Lavabrocken; und sie schlug, als ihr das Geld ausging, Fischen am Fließband die Köpfe ab, der einzige Job, den sie ohne Papiere bekam.

Doch mit einem Ort hier hat sie eine enge Beziehung aufgebaut: Stykkishólmur, ein Städtchen mit 1200 Einwohnern, drei Stunden nördlich von Reykjavik gelegen. Man müsste es Dorf nennen, wäre nicht das Krankenhaus, der Fährhafen, und die pompöse moderne Kirche, die wie ein surreales Baugerät im Gras steht.

Horn sperrt die Holztür auf und führt in einen sonnendurchfluteten Raum, der leer ist - bis auf 24 wie Bäume im Raum stehende Glaszylinder, die vom Boden bis zur Decke reichen. Am höchsten Punkt des Hügels über der Stadt, steht ein Haus, das ungewöhnlich ist im Land der Wellblech-Hütten. Es könnte mit seinem Fenster-Halbrund der Sitz der Hafenbehörde sein oder ein Leuchtturm.

Tatsächlich war in dem flachen Bau die ehemalige Bibliothek untergebracht. Als sie in ein größeres Gebäude umzog, hat Horn es gekauft und aus der tatsächlichen Bibliothek eine metaphorische gemacht: die "Library of Water", die dieser Tage eröffnet wurde.

Anfangs erscheint das Glas massiv, dann versteht man, dass sie mit Wasser gefüllt sind - in 24 Trübungen. Hier hellbraun, dort seifig-weiß, dort leicht grünlich.

Ganz langsam, davon zeugen die Ablagerungen am Boden, sinken die festen Bestandteile nach unten. Es sind Aquarien, in denen statt Fischen das Wasser selbst ausgestellt wird.

Und je mehr sich das Wasser klärt, desto mehr werden sich die Zylinder von opaken Säulen in Prismen verwandeln, durch die man die anderen Säulen und das grandiose Panorama vor dem Fensterrund wie in einem Hohlspiegel betrachten kann: der 20 Meter hohe Felsen, der den Hafen formt, das vom Winter gebleichte, vom Wind niedergedrückte Gras und das schwarze Meer, aus dem winzige Inseln ragen.

Wasser von 24 isländischen Gletschern

Das Wasser stammt von 24 isländischen Gletschern. In Geländewagen waren zwei Bergrettungsspezialisten in der Einöde des Hochlands unterwegs. Mit Motorsägen schnitten sie große Stücke aus dem Eis und brachten sie hierher. Die blauen Plastiktonnen mit den Namen der Gletscher stehen im Keller: Hofsjökull, Langökull, Snæfellsjökull.

Einige Wochen zuvor hatte Horn in ihrem New Yorker Atelier von dem Projekt erzählt. Vom Wasser, das in Island alles durchdringt; von Wasser, dem Chamäleon, das sich jeder Form anpasst; von den Gletschern, die jetzt schnell schmilzen, und von den sonnigen Tagen, die sie in Island viel häufiger erlebt als früher. Sonnige Tage wie diesem.

"Eine Bibliothek des Wassers - natürlich ist das absurd", sagt Horn. "Doch leider hat diese Idee heute etwas sehr Sinnfälliges. Man nimmt dieses Wasser und entzieht es jeder Beziehung, man hält es an. Es ist ein ultra-aggressiver Akt, eine Endspiel-Geste." Doch so aggressiv das Konzept sein mag, so dramatisch die Warnung vor dem Klimawandel, so sehr machen sich die Säulen auch wieder unsichtbar: Dann sind sie nicht mehr als ein zarter Rahmen für ein Bild der Küste.

Ähnlich ambivalent ist die Wirkung des Gummifußbodens. Die Schritte bleiben kleben, er riecht nach Leder und Autoreifen, doch sofort werden die Assoziation woandershin gelenkt: Dutzende englischer und isländischer Wörter sind in den Boden eingelegt: hamslaust, slæmt, spök, nasty, pleasant, rough: Wörter, die das Wetter und den Seelenzustand gleichermaßen beschreiben.

In Island kommen sich beide näher als anderswo. Der Boden ist ein Prolog für das Oral-History-Projekt, die zweite Komponente der Bibliothek: eine Einladung an die Ortsbewohner, von ihrer Beziehung zum Wetter zu erzählen. In einer Art Ethnologieprojekt werden die "Wetterberichte" im Internet nachzulesen sein.

Wie bei allen ihren Arbeiten kommt Horns Minimalismus ohne Pathos und Heiligkeit aus. Kunst ist eher ein Nebenaspekt. Horn hat das Bibliotheksgebäude vor allem gekauft, um zu verhindern, dass es in private Hände fällt. Sie versteht es als ein Geschenk an die Bewohner des Ortes, die es, so hofft sie, als Treffpunkt nützen werden.

Im Erdgeschoss soll ein "writer in residence" wohnen. Den Schlüssel kann sich jeder ausleihen. "Sie können damit machen, was sie wollen. Die Aussicht genießen, Yoga machen oder Schach spielen." - Es stimmt also, Schach ist so wichtig? "Natürlich. Das letzte große Ereignis in Island war der Kampf Bobby Fisher gegen Boris Spassky 1972 in Reykjavik", sagt die Bibliothekarin Ragnheidur Oladottir lächelnd.

Horn will mit ihrer Library kein Denkmal schaffen, sondern einen Ort, durch den man wie durch ein Kaleidoskop auf sich, auf die anderen und auf Island sieht, "eine andere Art von Tourismus". Und deshalb lädt sie zu einer Reise ein, von Stykkishólmur nach Westen, entlang der Nordküste der Halbinsel Snæfellsnes, einer ihrer Lieblingsgegenden.

Links und rechts der leeren Straße erstreckt sich die leere Landschaft. Das harte Gras, auf dem im kurzen Sommer die Schafe weiden, liegt jetzt gebleicht und zerdrückt auf den sanft ansteigenden Ebenen. In Mulden liegt noch Schnee, der in der Sonne taut. Das Wasser bildet kleine Seen, in denen der steife Wind Wellen schlägt.

Und überall ragen steile, kahle Bergkegel auf, die aussehen wie erloschene Vulkane. Im Krater des höchsten von ihnen, dem Snæfellsjökull mit seiner Schneekuppe, fanden die Helden in Jules Vernes Roman den Eingang zum Mittelpunkt der Erde.

Horn ist ein spröder Mensch, aber nun strahlt sie: "Ich glaube, schöner kann es nicht mehr werden!" Sie hält den Wagen mitten in einem Lavafeld an. Weich bemooste Felsklumpen, beschienen von der Abendsonne, stehen wie phantastische Figuren bis an den Horizont.

Horn hat das alles fotografiert: die Berge und die Moosfiguren, doch es ist nicht die Schönheit der Natur, die sie an der Landschaft fesselt, sondern die Landschaft als ein Feld, in dem etwas wie eine reine Erfahrung möglich sein könnte - ohne das Netz von Bedeutungen und Geschichte, das die Zeit und die Zivilisation über die meisten anderen Orte gespannt haben. Kaum etwas hier ist schon benannt und definiert. Alles bedeutet nur es selbst.

Die Geologie ist so jung, dass die Felsabbrüche aussehen, als hätte sich die Erde gestern erst erhoben. Und das Brodeln unter der dünnen Erdkruste verspricht, dass hier auch in Zukunft alles im Werden bleiben wird.

Statt Antworten zu geben, stellt diese Landschaft Fragen. Für Roni Horn, die sich selbst als "androgyn" bezeichnet, die ihr ganzes Leben um die Frage ihrer Identität gerungen hat, weil sie sich "ausgeschlossen fühlte, von denen, die mir angeboten wurden", ist eine Fahrt durch Island wie die Bewegung der Hand über eine leere Tafel.

Ein gelbes Warnlicht blinkt. Die Straße wird verbreitert, doch die Bagger haben auch ringsum die Landschaft zu Matsch gewühlt. "Da sehen Sie Straßenbau auf isländisch. Erstmal alles kaputtmachen", schimpft Horn.

Island, ihre fünf Flugstunden von Manhattan liegende Utopie einer Nullstufe der Welt, erodiert.

"Als ich zum ersten Mal hierher kam, fuhr man auf Schotter. Doch seit die Ringstraße fertig ist, die die Küste entlang um die ganze Insel führt, ist die Hölle los. Das Land ist harmlos genug geworden für Whale Watcher, Steineklopfer und Kreuzfahrttouristen. Es werden überall Bäume gepflanzt. Jetzt wollen sie sogar das Hochland erschließen. Der Aluminiumkonzern Alcoa hat dort gerade ein neues Kraftwerk gebaut. Es wurden 500 Jobs geschaffen, dafür wurden 100 Wasserfälle zerstört."

Bevor sie sich verabschiedet an einer Tankstelle mit einer einzigen Zapfsäule an der Kreuzung zweier leerer Landstraßen, sagt Horn noch: "Die Isländer schämen sich sehr für ihre Bescheidenheit. Gerade die finde ich so anziehend. Ihre ganze Zivilisation bestand darin, jeweils die nötigsten Bedürfnisse zu erfüllen. Es gab keine symbolischen Gesten, keine Grandiosität. Ich bin enttäuscht, nicht weil ich dachte, sie seien besser als wir, sondern weil sie, anders als wir, noch die Wahl hatten."

Ihr Wagen knirscht durch den Kies davon. Von ferne donnert ein silberner Truck heran. Man könnte auch irgendwo im amerikanischen Westen sein.

© SZ vom 10.5.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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