Luxemburg:Mustermanns Puppenstube

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Keine Frage, Luxemburg ist klein. Eine Winzstadt in einem Winzstaat. Dennoch gibt es in der Kulturhauptstadt von 2007 viel zu entdecken.

Tanja Rest

Irgendwann nachmittags im Café "Interview" - der Rauch ist schon dick, die Lautstärke enorm - klemmt Sascha Ley eine Locke hinters Ohr, zündet die dritte Selbstgedrehte an und sagt: "Das Problem ist, dass es in dieser Stadt so viele Jobs gibt." Sie sagt es frei von Spott.

(Foto: Foto: City Tourist Office)

Der Satz ist natürlich trotzdem eine Frechheit.

Stell dir vor, du bist am gleichen Tag aus Deutschland angereist. Aus Hartz-IV-Deutschland, Arbeitslosen-Country, der Kommandozentrale des Jammers. Und dann hörst du diesen Satz. Womöglich hast du vorher noch die Luxemburger Tageszeitung aufgeblättert und den Leitartikel gelesen. Der Autor hat sich wirklich Mühe gegeben mit seinem Alarmstufe-Rot-Vokabular, "Konjunkturkrise", "Lage am Arbeitsmarkt spitzt sich zu" undsoweiter, Hut ab. Aber die reale Lage sieht so aus: Ende Juli waren 8242 Menschen arbeitslos. Landesweit! Das sind nicht mal vier Prozent! Als Deutscher liest du das und denkst, mein Gott. Das ist das verdammte Paradies.

"Können Jobs ein Problem sein?" "Manchmal schon", sagt Sascha Ley. "Pardon, versteh' ich nicht."

"Weil ich als Künstlerin ja eigentlich raus müsste. Aus dieser Stadt, aus dem ganzen kleinen Land. Aber man hat hier immer Arbeit, wenn man will. Es geht uns irgendwie zu gut, um abzuhauen."

Diesen Satz werden wir noch öfter hören. Oft schwingt ein schlechtes Gewissen mit, dieses Ich-müsste-eigentlich. Und dann kommt das immergleiche "Aber" hinterher.

Eine Winzstadt in einem Winzstaat

Ein paar Stunden zuvor sind wir zum ersten Mal im Leben in Luxemburg gelandet, die üblichen Klischees im Hinterkopf. Luxemburg wie Geld (dritthöchstes Pro-Kopf-Einkommen der Welt, und folglich: 3,75 Euro für einen Döner). Luxemburg wie Europa (EU-Gerichtshof, Ministerrat, das "L" in RTL.) Luxemburg wie Billigsprit (98 Cent der Liter Super), Billigkippen (3,10 Euro die Schachtel Marlboro).

Und natürlich die Luxemburger Banken. Der allererste Eindruck am Gepäckband ist eine Werbetafel, von Business-Trolleys umkreist. "Ideen zur Vermögensanlage? Luxemburg bietet mehr." Leider haben wir kein Vermögen, dem Luxemburg etwas zu bieten hätte. Sondern wir sind hier, weil diese Stadt so furchtbar klein ist. Was für ein seltsamer Grund für einen Besuch!

Und keine Frage, Luxemburg ist klein. Eine Winzstadt in einem Winzstaat. Wenn ein Luxemburger aus Diekirch, Junglinster oder Ettelbrück in die Kapitale fährt, dann sagt er nicht: Ich fahr' jetzt mal nach Luxemburg. Sondern "in d' Stad". 83 000 Einwohner hat sie, so viele wie Worms. Wenn du mal ordentlich losmarschierst und kurz nicht aufpasst - schwupps, stehst du auf dem Acker.

Man kann es aber auch anders angehen. Hier kommen die dicken Zahlen: 200 Banken. 7000 EU-Beamte. 138 Nationalitäten, 60 Prozent Ausländer, 14 000 Portugiesen. Und drei Amtssprachen. Kein Wunder, dass der Luxemburger in einem ständigen Konflikt lebt. Dafür, dass seine Stadt so mini ist und er doch eigentlich dringend-mal-raus müsste, kriegt er ziemlich viel geboten.

Wir aber fahren erstmal rein. Mit dem Flughafenbus über die schnurgerad-sechsspurige Avenue John F. Kennedy, vier Kilometer quer durch Europa. Das streng genommen Kirchberg heißt. Das EU-Viertel im Osten sieht aus wie ein Jurrassic Park für Architekten, unterscheidet sich also durch nichts von den Potsdamer Plätzen dieser Welt, in denen zu große Egos, powered by zu viel Geld, zu Spiegelglaswüsten, Portikustragödien und Betonstelenmassakern geronnen sind. Nur dass die Architektur-Tyrannosauren in Kirchberg besonders viel Auslauf gehabt haben.

Kulisseneffekt durch die Frontscheibe

Immerhin gibt's mächtig Kunst am Bau, sehr schön etwa Fernand Léger, La Grande Fleur qui marche. Es sind aber gerade weder Blumen noch Menschen unterwegs auf den Trottoirs der EU. Europa hat an diesem Morgen den Look eines Hirngespinstes: eine etwas bekloppte und sehr unbehauste Zukunftskulisse.

Das hat auch sein Gutes. Wenn du dann über die Grande-Duchesse-Charlotte-Brücke fährst und Kirchberg im Flughafenbus-Rückfenster verschwindet, während die Altstadt im Viereck der Frontscheibe allmählich auftaucht, da weißt du diesen Kulisseneffekt regelrecht zu schätzen.

Die Stadt, einst eine der stolzesten Festungen Europas, steht auf einem 40 Meter hohen Sandsteinmassiv. Unten, von gewaltigen Viadukten überspannt: die Flüsschen Alzette und Pétrusse, Grün en masse, Flanierer, Jogger sowie der neuerdings boomende Stadtteil Grund, gemütlich in die Senke gekuschelt. Oben: Mordskulisse! Unesco-Weltkultur-Kulisse! Der behäbige Glockenturm von Sankt Michaelis, die steilen Serpentinen der Corniche mit dem ewigen Klicken der Fotoapparate, schiefergedeckte Villen, die tausendjährigen Reste der Lützelburg - alles wie aus einem Guss.

Dahinter buckelige Kopfsteinpflasterpisten. Elegante Shoppingmeilen. Todschicke Brasserien rund um die zentrale Place d'Armes, immer rätselhaft die Speise-Tafeln: Bouneschlupp. Kachkéis, Gromperekichelcher. Judd mat Gaardebounen, das Nationalgericht. Vorm Café de Paris essen spanische Geschäftsleute und eine schwäbische Reisegruppe geräucherten Schweinekamm an weißen Bohnen und stoßen dazu mit Bofferding-Bier an. Auf Luxemburg!

Die Stadt ist wirklich sehr schön. Es fällt einem zuerst aber noch ein anderes, etwas doofes Adjektiv ein. Nämlich "schmuck". Schmuck wie . . . adrett, proper, puppenstubenhaft, eben wie etwas, das schwäbische Reisegruppen mögen.

Zum Beispiel stehen auf der Place d'Armes auf einer Fläche von 15 mal 15 Metern acht Abfallkörbe - die Luxemburger Abfallkorb-Dichte ist die höchste, die uns je begegnete. Dafür gibt es so gut wie keine Straßenkünstler. Oder rumhängende Kids. Oder Bettler. Ein tschechisches Mädel, das auf der Grand-Rue selbstgeknüpfte Armbänder für vier Euro das Stück verkauft, ist das einer Bettlerin Ähnlichste, das wir in drei Tagen aufspüren werden.

Aufschlussreich auch der Palast. Ein spanisch inspirierter Spätrenaissance-Kasten mit Türmen, Erkern und zugezogenen Lamellen-Stores, wie es sich gehört, natürlich schmiedeeisernes Tor nebst länglicher Hundehütte für die Garde. Soweit alles Buckingham Palace.

Allerdings, am großherzoglichen Torpfeiler gibt es eine Klingel. Und auf dem Klingelschild steht: "K. Mustermann". Ist das nicht toll? Weil der Großherzog ja wirklich ein Mustermann ist! Henri Großherzog von Nassau-Weilburg, 51 Jahre alt, auf den Postkartenständern der Stadt im fichtengrünen Jackett mit Gattin Maria Teresa posierend, optisch eine konservative Legierung aus Wolf-Dieter Poschmann und Lex Barker.

In seiner Amtszeit hat er der Welt und der Bunten keinen einzigen Skandal beschert, nicht mal zu fadenscheinigsten Gerüchten über ein womögliches Techtelmechtel mit einer andalusischen Simultandolmetscherin Anlass gegeben.

Nett und schmuck, das kann allerdings auch heißen: ein bisschen langweilig. Wir sind mittlerweile am - selbstverständlich malerisch verwinkelten - Fischmarkt angekommen, wo der städtische Wahlspruch in hohen Lettern an einem Erker prangt: "Mir wölle bleiwe wat mir sin."Etwas mehr Unruhe täte dieser Stadt ganz gut. Und das ist so ungefähr die Stimmungslage, in der wir auf Sascha trafen.

Sascha Ley, 37 Jahre alt. Lustige Grünaugen, Alabasterteint zum rötlichen Lockenschopf. Sie ist in Saarbrücken geboren und in Luxemburg groß geworden - jawohl, groß. Die Leute hier kennen sie als Theaterschauspielerin und hochkarätige Interpretin des Jazz, im "Interview" sind bei ihrem Entrée gleich drei Tisch-Gesellschaften aufgesprungen. Aber keine Autostunde weiter, in Frankreich, Belgien, Deutschland: Nullnummer. "Demnächst spiele ich bei euch im ,Tatort' eine Leiche", sagt sie und lacht.

"Wie klein ist Luxemburg wirklich?" "Ganz schön klein. Wenn du am Grand Théâtre 30 Mal gespielt hast, haben dich eigentlich alle gesehen." "Aber?" "Aber: Es ist toll, irgendwie. Man kann sich Kultur hier leisten. Wir haben Museen, Konzertsäle, eine der modernsten Bühnen Europas. Der neueste technische Schnickschnack! Allerdings immer noch keine eigene Truppe. . ."

Die Luxemburger Kulturministerin ist nach einer gefeierten Premiere vom Kritiker der FAZ mal gefragt worden, warum das Grand Théâtre kein festes Ensemble habe. "Och, das wäre doch langweilig", sagte sie, "immer die gleichen Gesichter!" Sascha findet aber, dass man wegen solcher Eigenheiten nicht gleich im Provinziellen stecken bleiben muss. "Kulturell ist hier viel geboten. Sicher ist manches eher konservativ. Aber wenn man selbst was auf die Beine stellen will, hat man sehr gute Chancen."

Es ist schon seltsam. Da landest du in einer Stadt, die du spontan nicht sonderlich magst. Dann triffst du einen einzigen Menschen, der freundlich über diese Stadt spricht. Vier Stunden später kommst du aus dem "Interview" und siehst das ganze Luxemburg in einem anderen Licht. Als sei es dir ein bisschen ans Herz gewachsen.

Zunächst hat es ja den Anschein gehabt, als sei diese merkwürdige Hauptstadt aus allen Ecken Europas zusammengeklaut: die Bistros von den Franzosen, die Tapas Bars von den Portugiesen, die Parks von den Briten und die Ordnung von den Deutschen. Nichts passt zu einander. Und dann merkst du plötzlich, die Mischung funktioniert. Am wunderbarsten funktioniert sie bei den Sprachen. "Es ist doch toll, wenn dir drei Mundarten gleichzeitig um die Ohren knallen", hat Sascha gesagt. Da ist was dran.

Sogar die Zeitungen sind dreisprachig - neben dem Arbeitslosen-Stück des alarmierten Leitartiklers steht ein französischer Text über die Pariser Außenpolitik, zwei Seiten weiter eine Lokalglosse auf Lëtzebuergesch. Da ist die Utopie von Europa wirklich Alltag geworden.

Die Idee von Europa auf ein paar Schautafeln

Auch die Kulturtempel müssen sich nicht verstecken, an Geld hat es in den letzten zehn Jahren nicht gefehlt. Manchmal ist es allerdings gut, wenn man nicht zu genau hinter die teure Kulisse schaut. Am supermodernen Musée d'Histoire hat die europäische Presse vor allem den gläsernen Aufzug gelobt.

Das Museum für Zeitgenössische Kunst des Architekten Ieoh Ming Pei ist nach mittlerweile sechs Baujahren noch immer nicht mit Kunst gefüllt. Dafür ist im Mai in der Unterstadt Grund das europäische Kulturforum mit viel Tamtam eröffnet worden, eine richtig große Sache im herrlich restaurierten Gemäuer der ehemaligen Abtei Neumünster. "L'Idée d' Europe" heißt die laufende Ausstellung, wir treten ein. Schauen. Suchen. Fragen das Mädel an der Rezeption, wo's weitergeht. Aber es geht nicht weiter. Die Idee von Europa hat auf ein paar Schautafeln Platz gefunden. Guy Stoos freut sich diebisch, als wir ihm davon erzählen.

Kunststück für sich, ihn an einem Samstagabend treffen zu wollen. "Lassen Sie mich nachdenken", sagt die Stimme am Telefon. "Hmm - schwer. Samstags haben die meisten Cafés zu." Ungelogen! Am Ende einigen wir uns auf eine Hotel-Brasserie im Bahnhofsviertel. "Sie erkennen mich leicht, ich bin groß, füllig und habe lange rote Haare." Was sollen wir sagen. Wir erkennen ihn leicht.

Guy Stoos ist Karikaturist beim Feierkrop, das heißt so viel wie "Feuerhaken". Der Feierkrop ist das Luxemburger Satireblatt: vier Seiten, acht Mitarbeiter, 30 000 Leser wöchentlich. Jetzt könnte man meinen: Karikaturist in dieser schmucken, reichen, freundlichen Stadt - das muss ein Höllenjob sein. Ganz falsch. Der Mann hat richtig gut zu tun.

Mit der Kulturpolitik: "Kulturpolitik beschränkt sich auf das Bauen schöner Gebäude", sagt er, "wir wollen hier immer alles mit dem Scheckheft regeln." Oder mit der Ordnung: "Alles Unschöne wird weggepackt. Bis vor ein paar Jahren waren sogar die Behinderten-Parkplätze so gut versteckt, dass nicht mal die Behinderten sie gefunden haben." Oder mit der Demokratie, da ist er Insider. Der vielleicht einzige Karikaturist weltweit, der im Stadtrat sitzt; für die Sammelbewegung "De Link".

"Demokratie. . .", sagt Guy Stoos langsam und nimmt erstmal einen Schluck Tonic, du kannst richtiggehend zuschauen, wie in seinem Kopf die Argumente a), b) und c) in eine passende Reihenfolge montiert werden. a) "Wir sind kein demokratisches Land." b) Schon im Stadtrat nicht. "Alle sind so schrecklich konsenssüchtig. Die Papiere der Regierung werden von vornherein so formuliert, dass die Opposition dazu Ja sagen kann." c) Konflikte werden nicht offen ausgetragen. "Dabei gibt es einen Haufen Konfliktstoff!"

Zum Beispiel die Ausländer. "Wir haben hier 270 000 Arbeitnehmer, aber nur jeder Dritte darf wählen." Die Immigranten sind von den Parlamentswahlen ausgeschlossen, an den Kommunalwahlen dürfen sie nur teilnehmen, wenn sie sich in eine Liste eingetragen und nachgewiesen haben, dass sie Lëtzebuergesch sprechen. "Wir bilden uns viel darauf ein, ein multikulturelles Land zu sein. Tatsächlich wird es von einer wohlhabenden Minderheit regiert."

Stille. Die Serviererin kommt und kassiert 12,50 Euro für vier Softdrinks. Wir denken an Sascha. Sascha mit der herrlich rauchigen Jazz-Stimme, die so freundlich über Luxemburg gesprochen hat. Die trotzdem fand, streng genommen müsste sie mal weg.

"Warum sind Sie noch hier, Monsieur Stoos?" "Weil sich zu viele Leute freuen würden, wenn ich nicht mehr beim Feierkrop wäre, vermutlich." "Jetzt mal im Ernst." "Ach, es ist wohl so eine Art Hassliebe. Außerdem, ich mag's auch gern bequem." Er verabschiedet sich und trottet davon, im strömenden Regen durchs Bahnhofsviertel. Keine Junkies und kaum Partyvolk unterwegs. Aber überall dort, wo Guy Stoos in eine Pfütze tritt, macht die diskrete Reklame eines Sex-Shops ein ausgelassenes Tänzchen.

© SZ vom 23.10.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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