Islands Halbinsel Snaefellsness:Ein Mythos aus Felsgestein

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Das zweite Gesicht einer aufgeklärten Gesellschaft: Nicht nur die Bewohner sagen dem Berg Snaefellsjökull Zauberkräfte nach. Von Angelika Jung-Hüttl

Am Fuß des Vulkans: Eine kleine Kirche mit Friedhof, ein paar verwitterte Gehöfte und eine Gruppe Holzhäuser mit blauen Wellblechdächern, die verloren auf einer grünen Wiese hoch über der dunklen Steilküste des Atlantik liegen. Das ist Hellnar, ein Dorf unterhalb des sagenumwobenen, gletscherbedeckten Snaefellsjökull an der Spitze der lang gestreckten Halbinsel Snaefellsness im Westen von Island.

Gudlaugar Bergmann, Betreiber des Gästeheims, das in einem der blaugedeckten Holzbauten untergebracht ist, gibt Gästen gerne das Zimmern Nummer neun: "Das ist in der isländischen Mythologie die Zahl für Integrität, für Makellosigkeit und Unbestechlichkeit." Der stämmige, graubärtige Mann mit den wässerigen Augen blinzelt, als meine er nicht ganz ernst, was er sagt. Offenbar will er die Ankömmlinge in die besondere Aura des Hauses einbinden, das umgeben ist von Steinkreisen und großen Kristallen. Diese sollen helfen, die Kraftfelder des Berges auszurichten und zu nutzen. Viele Isländer sehen im Snaefellsjökull einen mystischen Berg, der Energie und Lebenskraft zu spenden vermag - und angeblich nicht nur deswegen, weil es für den Tourismus förderlich ist.

Das aufgeklärte Island, das bei modernen Technologien wie etwa der Genforschung und der Gewinnung alternativer Energien an der Weltspitze steht, hat mit seinem Glauben an Elfen, Feen, Trolle eine stark ausgeprägte irrationale Seite. "Die rasante wirtschaftliche Entwicklung in den letzten Jahrzehnten hält uns nicht davon ab, uns immer wieder an unsere Mythologie zu erinnern und an die raue, ungebändigte Natur, in der wir leben", erklärt Gudlaugar das Phänomen.

Der Kraftberg gibt zunächst nicht viel von sich preis. Dicke Wolken umhüllen seinen Gipfel. Weltberühmt wurde der Snaefellsjökull eigentlich nicht aufgrund der Mythologie Islands, sondern durch zwei Literaten. Der französische Schriftsteller Jules Vernes lässt in seinem Roman "Reise zum Mittelpunkt der Erde" Professor Lidenbrock und dessen Kumpane hier ins Innere unseres Planeten hinabsteigen, wo sie solange in Gängen und Höhlen herumforschen, bis sie weit im Süden, während einer Eruption des Vulkans Stromboli bei Sizilien wieder ausgespuckt werden. Der isländische Literatur-Nobelpreisträger Halldor Laxness griff den Mythos des Snaefellsjökull auf und machte den Berg zum Schauplatz für seine skurrile Geschichte über die "Seelsorge am Gletscher". Ein Vertreter des Bischofs von Reykjavik, kurz Vebi genannt, nimmt im Auftrag der Kirche die wundersamen Vorgänge in der Christengemeinde am Snaefellsjökull unter die Lupe. Er macht bei dieser Gelegenheit Bekanntschaft mit einem höchst unorthodoxen Pfarrer, der davon überzeugt ist, dass der Snaefellsjökull mit den Spiralnebeln im All in Verbindung steht, mit Elfenwiddern, kalifornischen Lebenserweckern und verführerischen weiblichen Geistern. In seiner Verwunderung nennt der Vebi den Snaefellsjökull den "Terrinendeckel der Welt, der die Geheimnisse der Erde zudeckt" und fragt sich angesichts des in der Sonne gleißenden Gletschers, "ob nicht das zu grelle Licht eine Lähmung des parasymphatischen Nervensystems hervorruft", wobei Menschen sonderbare, überirdische Eigenschaften entwickeln.

Selbst wenn sich die Wolkendecke auf der Eiskappe des Snaefellsjökull lichten würde, ließe sich die These von Laxness' Romanfigur wohl kaum überprüfen. Am Berg sind lediglich die schwarz erstarrten Lavaströme zu sehen, die sich wie dicke Wülste aus dunkler Melasse über dessen Flanken ergießen. Sie stammen vom letzten Ausbruch des Vulkans, der unter dem mächtigen Gletscher schlummert. Die Eruption passierte vor etwa 1750 Jahren, also lange bevor Menschen auf der Atlantikinsel siedelten.

Zwischen Hellnar und dem Nachbarort Arnarstapi flossen damals mächtige Lavaströme bis weit ins Meer hinaus. Die glühende Schmelze ballte sich zu unzähligen, schwarzen, eng aneinander liegenden Basaltsäulen. Die Wellen, die unaufhörlich gegen die dunklen Felsen schlagen, haben sie im Lauf der Jahrhunderte angegraben und eine bizarre Steilküste geschaffen mit mächtigen Brandungstoren und Höhlen. Die Felswände gleichen trutzigen Burgmauern aus teils gerade stehenden, teils schräg liegenden oder in Rosetten angeordneten Säulen. Allein der Gedanke, hier über der Steilküste bei Nebel oder Sturm in den unwegsamen Lavafeldern zu sein, lässt einen schaudern. Kommen hier die Trolle, Elfen und anderen Spukgestalten Islands zusammen?

Im Frühjahr und Sommer nisten Abermillionen von Seevögeln in den Spalten und Vorsprüngen der Basaltfelsen. Ihr Dung färbt den schwarzen Stein weiß. Die Luft ist Tag und Nacht vom Kreischen und Schwatzen der Vögel erfüllt. Unermüdlich gleiten sie von den senkrechten Felswänden weg aufs Meer hinaus, um sich dort in die Wellen zu stürzen und Futter für ihre hungrigen Jungen zu holen.

Besonders wichtig haben es die Papageientaucher, die mit hektischem Flügelschlag pfeilschnell übers Wasser schießen, um sich dann einfach in die Wellen plumpsen zu lassen. Elegant gleiten die Eissturmvögel über die Steilküste. Sie scheinen sogar Interesse an den Wanderern zu haben. Denn einzelne Tiere bleiben nur wenige Meter über dem Boden in der Luft stehen, gleichen mit den Schwingen die Windstöße aus, die sie weiterzuschieben drohen, und äugen neugierig auf die Menschen herab. Andere kratzen sich während des Flugs mit den Beinchen am Kopf, oder schütteln sich, als wollten sie ihr Gefieder lockern. Plötzlich schießen schrill kreischende, kleine schwarz-weiße Vögel mit knallroten spitzen Schnäbeln auf die Köpfe der Wanderer herab. Immer von hinten, so dass der Schrecken jedesmal groß ist. Das hat nichts mehr mit Neugier zu tun. Das ist Angriff. Die Küstenseeschwalben dulden keine Menschen in ihrem Brutrevier - aus Angst um ihre Jungen, die noch nicht flügge sind und ungeschützt im weichen Gras der Wiesen über der Steilküste hocken. Hier könnte sich Alfred Hitchcock Anregungen für "Die Vögel" geholt haben. Auch wenn die aggressiven Flieger nur klein sind - man glaubt die spitzen Schnäbel im Haar zu spüren. Schnell die Anorakkaputze über den Kopf gestülpt und nichts wie weg.

Vor Arnarstapi ragt eine düstere Felsskulptur über eine von Küstenseeschwalben besetzte Wiese. Sie stellt Bardur dar, der den Snaefellsjökull mystifizierte. Der Sage nach war Bardur um das Jahr 1000 n. Chr. einer der ersten Siedler auf der Atlantikinsel. Um ihn rankt sich eine grausame Geschichte. Der Königssohn hatte einen Riesen und eine Trollfrau unter seinen Vorfahren. Ein Zwerg hatte ihn erzogen, ihn den Umgang mit Waffen und der Magie gelehrt. Vom arktischen Ozean über Norwegen segelte er mit seinen Leuten nach Snaefellsness und ließ sich dort nieder. Bardur hat den 1442 Meter hohen, vereisten Vulkan als erster bestiegen und ihm den Namen Snaefellsjökull, Schneeberg-Gletscher, gegeben.

Der Clan lebte in Frieden am Fuß des Berges, bis eines Tages ein Neffe Baldurs - er hieß Raudfeldur - dessen Tochter Helga beim Spielen auf einen vorbeitreibenden Eisberg setzte. Obwohl Helga unversehrt in Grönland ankam, rächte sich Baldur fürchterlich. Er stürzte den Jungen in die enge, steile Schlucht, die heute Raudfeldargja heißt. Er selbst verschwand für immer auf dem Snaefellsjökull, wo seither sein Geist wohnt, der noch heute von den Menschen angerufen wird.

Baldur soll seinerzeit ein Stück westlich von Hellnar, am Djupalonsandur gelandet sein. Dieser nunmehr verlassene Strand mit großen schwarzen Basaltkieseln und breiten Strängen aus orangerotem glibbrigen Tang war noch im 19. Jahrhundert eines der wichtigsten Fischereizentren Islands entlang der Küste von Snaefellsness. Bis zu 400 Leute hausten dort während der Fischsaison in den Monaten April und Mai wochenlang in primitiven Hütten. Wenn es das Wetter und der Wellengang erlaubten, ruderten sie in offenen Booten aufs Meer hinaus, um den Fang einzuholen. Eine harte und gefährliche Arbeit. Bei einem plötzlichen Wetterumschwung zerschellten oft mehrere Boote, und Dutzende von Männern ertranken in einer Nacht - ein besonders großer Verlust für ein Volk von damals nur wenigen zehntausend Menschen. Die alten Hütten sind im Lauf der Zeit völlig verwittert. Allerdings liegen eine Menge rostiger Wrackteile am Strand herum. Sie stammen, laut Schautafel, von dem englischen Trawler Epine, der am 13. März 1948 an dieser Stelle strandete und zeugen von der Gefährlichkeit dieser Küste.

Gegen Abend beginnt sich die Wolkendecke zu lichten. Die Straße, die teils geteert, teils als offene Piste um den Snaefellsjökull herumführt, erreicht an der Ostseite eine Höhe von etwa 700 Metern. Die schwarzen Lavastränge sind dort mit leuchtend grünem Moos überzogen, das im schwachen Sonnenlicht zu glänzen beginnt. Die Sonne zeigt sich bereits schemenhaft. Plötzlich reißen die weißen Schleier auf, und das Eis des Gletschers wird sichtbar. Unten am Rand von tiefen Spalten durchzogen, dann bis hinauf zum Gipfel eine graue und hellblaue Fläche. Nur einen kurzen - scheinbar magischen - Moment liegt der Snaefellsjökull offen da, dann verhüllt er sich wieder.

Auf der Rückfahrt nach Reykjavik offenbart der Snaefellsjökull seine magische Kraft. Die Luft ist so klar, wie sie nach den intensiven Regenfällen der vergangenen Stunden nur sein kann, und die Sonne senkt sich immer tiefer. Der Vertreter des Bischofs, der Vebi im Roman von Halldor Laxness, beschreibt die Stimmung so: "Der Berg erinnert an durchsichtiges Chinaporzellan mit Goldrand, besonders wenn die Sonne tief über dem Meer steht, denn dann umspielen ihre Strahlen den Firnschnee von beiden Seiten." Mit sinkender Sonne leuchtet der vergletscherte Vulkan orangerot. Messerscharf zeichnet sich seine Silhouette gegen den hellen Horizont ab. Nur der schmale Streifen der Halbinsel und ein Stück Meer sind in dieses Abendlicht getaucht. Der Rest von Island liegt düster und grau unter einer schweren Wolkendecke.

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