Helgoland:Die wankende Anna

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Das Wahrzeichen von Helgoland könnte jederzeit einstürzen - Rettungsversuche für den Sandfelsen werden eingestellt.

Axel Bojanowski

Warum die Lange Anna so berühmt ist, erschließt sich nicht von selbst. Eigentlich ist sie nur ein Sandstein-Klotz. Vor Helgoland ragt sie steil aus der Nordsee, aber auch ihre Höhe von 48 Metern erklärt kaum, warum das Bild der Langen Anna auf Briefmarken prangt, warum jährlich eine halbe Million Touristen den Fels bewundert und sich eine Stiftung um ihren Erhalt kümmert.

Schon Kaiser Wilhelm II. soll als Kind zu Füßen der Langen Anna am Strand gespielt haben. Da war sie noch jung. In der Mitte des 19. Jahrhunderts war das Gestein eingestürzt, das den Sandsteinzinken mit der Mutterinsel Helgoland verband. Die Lange Anna war geboren, und wurde rasch zu Helgolands Wahrzeichen.

Einiges musste sie seither aushalten, sogar Bombenangriffe. Am 18. April 1947 trotzte sie einer der größten nicht-nuklearen Explosionen aller Zeiten. Um Helgoland zu vernichten, hatten Soldaten Großbritanniens auf der Insel knapp 7000 Kilogramm Sprengstoff gezündet. Ein Sechstel Helgolands stürzte ins Wasser. An Weihnachten 1950 bombardierten britische Flugzeuge das Eiland, das evakuiert worden war. Die Lange Anna überstand jedoch all diese Gewaltakte.

Am 1. März 1952 gab Großbritannien Helgoland an Deutschland zurück. Die Lange Anna kam dennoch nicht zur Ruhe. Stetig bröckelt ihr Gestein in die Nordsee. Noch wiegt sie knapp 25 000 Tonnen, etwa eine Tonne bröckelt jedoch jährlich von ihr ab. Seit langer Zeit schon erdenken Ingenieure Rettungsmaßnahmen, um den Verfall zu stoppen. Doch mittlerweile geben sogar die Verantwortlichen vor Ort die Formation verloren. Bereits in diesem Winter könnte das Wahrzeichen in der Deutschen Bucht kollabieren.

Der Sandstein der Nordseeinsel ist kaum stabiler als altes Weihnachtsgebäck. Er besteht aus groben Sandkörnern, die nur schwach aneinander haften. Der Sand wurde vor 225 Millionen Jahren in einer Wüste abgelagert und unter dem Druck nachfolgender Sedimente zu Stein gepresst. Ein aufquellendes Salzkissen hob später das Gestein aus der Tiefe, die Plattentektonik schob es nach Norden. Das erklärt, warum mitten in der Nordsee eine Insel aufragt. Helgoland ist Deutschlands einzige Hochseeinsel.

Wie verwundbar das Eiland ist, zeigte sich zuletzt am 9. November dieses Jahres, als eine Sturmflut den Strand von Helgolands kleiner Schwesterinsel Düne ins Meer riss. Den Sand zu ersetzen, wird mehrere Millionen Euro kosten. Auch von der Hauptinsel räumte die Flut einiges Gestein ab. Erinnerungen an das Jahr 1720 wurden wach, als eine Sturmflut Helgoland in zwei Teile riss und die heutige Badeinsel Düne vom Rest trennte. Neun Jahre zuvor waren zwei freistehende Kalkfelsen bei einer Sturmflut eingestürzt. Das Witte Kliff war wie die Lange Anna der Hauptinsel vorgelagert. Den Angriffen der Nordsee hatte der weiche Kalkstein wenig entgegenzusetzen.

Ganz Helgoland wird stetig kleiner. Geologisch betrachtet ist der Kampf der Elemente Wasser gegen Land längst entschieden. Auf Dauer wird die Insel nicht bestehen können. Jedes Jahrhundert verliert die 60 Meter hohe Insel im Mittel 20 Zentimeter; das Material wird ins Meer gespült. Immer wieder stürzen größere Felsmassen ab. Um die Anwohner an gefährdeten Orten warnen zu können, kontrollieren Experten mit den Daten von GPS-Navigationssatelliten, wo der Fels in Bewegung ist.

"Big Bang"
:Engländer wollten Helgoland sprengen

Die Engländer wollten die Hochseeinsel mit 6700 Tonnen Munition von den Seekarten tilgen - als sich der Rauch verzog, staunten die Briten nicht schlecht.

Der Zutritt zum Strand an der Langen Anna wurde längst gesperrt, Steinschlag droht. Immer wieder klettern jedoch Souvenirjäger über die Zäune, um Brocken des berühmten Felsens zu ergattern. Das Abenteuer erscheint immer gefährlicher, denn der Fels wird dünner und dünner. Regenwasser dringt in den porösen Sandstein und wäscht ihn aus. Weiche Schichten werden am schnellsten erodiert. Die Hohlräume bieten Nistplätze für Vögel, die zu Tausenden in den Spalten der Langen Anna nisten.

Helgoland ist die einzige Hochseeinsel Deutschlands. (Foto: Grafik: SZ)

Am Boden greift die Brandung an; die Nordsee unterspült den Sockel des Felsens. Knapp ein Fünftel der 18 Quadratmeter großen Standfläche sind ausgewaschen, resümierten Experten der Technischen Universität Hamburg-Harburg bereits vor sechs Jahren in einem Gutachten. Manche Helgoländer vertreten die Pisa-Theorie, wonach sich die Lange Anna wie der Schiefe Turm von Pisa neigt und umzufallen droht. Wissenschaftler widersprechen dieser These allerdings heftig.

Eher als den Totaleinsturz erwarten Geologen den Abbruch der oberen zwei Drittel des Felsens. Eine Schicht besonders labilen Sandsteins durchzieht die Lange Anna an der dünnsten Stelle in 16 Meter Höhe. Die sogenannte Katersandlage könnte sich als Sollbruchstelle erweisen. Sie wird am schnellsten ausgewaschen, schon jetzt ähnelt der Turm mehr und mehr einer Eieruhr. Es bestehe "akute Gefahr", heißt es in einem neueren Gutachten der Harburger Forscher.

Frost beschleunigt den Verfall

Besonders im Winter leidet die Lange Anna, denn Frost beschleunigt ihren Verfall. Gefrierendes Wasser in den Felsporen dehnt sich aus und sprengt das Gestein. Schon beim nächsten Frost kann der Fels zersplittern. Auch die Winter-Sturmfluten nagen am Gestein. Ob es in den nächsten Wochen zum großen Knall kommt, vermag aber niemand vorherzusagen. "Ich gehe nicht davon aus", sagt Helgolands Bürgermeister Frank Botter, mehr hoffend als wissend.

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts kämpfen die Einheimischen um den Erhalt ihres Sandsteinzinkens. Zunächst setzten sie eine 1,3 Kilometer lange Schutzmauer vor die Lange Anna, um den Fels vor der Brandung zu schützen. Später wurden Stützen aus Stahl am Fels montiert. Doch all diese Maßnahmen haben den Verfall lediglich verlangsamt.

Seit sechs Jahren liegt ein umfassendes Konzept zur Rettung des berühmten Felsens vor. Beton sollte in Risse und unter den Sockel gegossen werden und den Fels stabilisieren, schlugen die Experten der TU Hamburg-Harburg vor. Doch nachdem Geologen den Fels genauer inspiziert hatten, zeigte sich, dass die Sanierung weitaus riskanter wäre als angenommen. Von einem Hubschrauber hatte sich ein Sachverständiger abgeseilt, um die Lange Anna aus der Nähe zu inspizieren. Beim Anblick des Felsen erschrak er: Tiefe Spalten durchzogen das Gestein. Seither war klar, dass die Betonfüllungen nur nach aufwändigen Sicherungsmaßnahmen durchgeführt werden könnten.

Doch dazu wird es nicht mehr kommen, denn sogar die Verantwortlichen vor Ort geben auf. "Man muss sich eingestehen, dass die Grenzen einer technischen Lösung erreicht sind", sagt Bürgermeister Botter. Es gebe keine Möglichkeit, dem weiteren Zerfall entgegenzuwirken. Und dann spricht Botter aus, was nicht nur Helgoländer traurig machen dürfte: "Die Lange Anna wird ihrem Schicksal überlassen bleiben müssen."

© SZ vom 28.12.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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