Frauen-Alltag in Jordanien:Im Traum in ferne Welten

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In Jordanien begegnen Urlauber im touristischen Alltag meist nur Männern. Wer das Leben der Frauen kennenlernen will, muss abseits des Rummels hinaus in die Wüste ziehen.

Pia Volk

Schon wieder einer. "Hello! Hello!", ruft er. "Möchten Sie mit einem Esel Petra erkunden?" Zehn Meter weiter steht der nächste und der nächste. Mal geht es um einen Esel, mal um eine kleine Kutsche, mal um ein Kamel. Aber immer sind es Männer, die die Tour anbieten.

Die kleine Welt der Aisha al-Hasasen: Die 13-Jährige hütet Ziegen im Wadi Feynan und träumt dabei von Freiheit und ihrer großen Liebe. (Foto: Pia Volk)

Petra, die alte Nabatäer-Stadt in Jordanien, ist ein kleines Weltwunder. Sie ist in den roten Stein einer Schlucht gemeißelt, meterhohe Portale mit Torbögen und Säulengängen. Ein Gewusel an Touristen wird täglich durchgeschleust und von Verkäufern bearbeitet. Die Männer erzählen den Besucherinnen von ihren Eseln, ihrem Reichtum, ihren Höhlen, die sie ihnen gerne zeigen möchten - weil sie die schönsten Augen der Welt haben. Es ist unmöglich, sie loszuwerden. "Nein", haben sie schon tausend Mal gehört. "Das ist gar nicht meine Augenfarbe, ich trage Kontaktlinsen." Selbst dieser Spruch funktioniert nicht.

Ein Mann sitzt stets im Hintergrund

Jordanien ist ein junges Land, nicht einmal 70 Jahre alt, die arabischen Revolutionen im Frühjahr haben der konstitutionellen Monarchie nichts anhaben können. Der Tourismus ist einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren des Landes. Doch wer als Tourist kommt, lernt nur das Land der Männer kennen. Nicht nur in Petra, sondern an fast jedem touristischen Ort in Jordanien wird man vom "Hello"-Chor charmant-aufdringlicher Männer empfangen.

Manchmal sieht man Beduinenmädchen mit stechend grünen Augen, verhüllt, anmutig, vor einem Stand voller Schmuck stehen. Aber im Hintergrund sitzt ein Mann und schlürft Tee, meist ein Bruder oder Onkel, der aufpasst, dass alles sittlich bleibt. Dort, wo Männer zuhauf verkehren, dürfen Frauen nicht hin. Sie sollen keinen Kontakt mit dem anderen Geschlecht knüpfen. Wenn man sich auf die Suche nach den Frauen macht, muss man raus aus dem Gewusel, raus in die Wüsten, wo man sicher vor Blicken ist.

Stille, die in den Ohren schmerzt

Am Anfang war also die Leere. Eine Steinwüste, eine unbeschriebene Landschaft. Sie wirkt, als würde man einen alten Film in Sepia anschauen. Die Luft darüber ist diesig, voller Staub. Ein paar kleine Hügel schälen sich in der Ferne aus dem Dunst heraus, fein hintereinander aufgereiht, wie ein Schutzwall, hinter dem Geheimnisse verborgen liegen, unaufgedeckt seit Jahrtausenden. Keine Grille zirpt hier, kein Vogel singt. Die Natur ist so still, dass es in den Ohren schmerzt. Man sucht nach einem Geräusch, nach einer Blume, nach einem Geruch, nach irgendetwas, dass diese Leere füllen könnte. Doch nichts bietet sich einem an.

In dieser Stille, im Wadi Feynan, rund 200 Kilometer südlich der Hauptstadt Amman, wohnt Aisha al-Hasasen. Sie ist 13 Jahre alt, ein kleines, zierliches Mädchen, das unter mehreren Lagen Kleidung versteckt ist: Über der Hose trägt sie ein knöchellanges Kleid, darüber ein T-Shirt, darüber ein Hemd. Ihre hüftlangen Haare hat sie zusammengebunden und hochgesteckt, unter dem Kopftuch sind sie verborgen, über dem sie noch eine Kappe trägt. Montags bis freitags besucht sie die Dorfschule, am Wochenende hütet sie Ziegen, meist gemeinsam mit ihrer älteren Schwester Khalija - und manchmal nimmt sie Touristen mit in ihre kleine Welt.

Durch Jordanien sind viele gewandert, Moses hat vom Berg Nebo, keine 150 Kilometer entfernt, das Gelobte Land erblickt, so steht es in der Bibel. Jesus reiste durch das Ostjordanland und heilte Kranke im Gebiet um die Städte Gadara (Umm Qais) und Gerasa (Jerash). In Petra, der Stadt im Felsen, kreuzten sich die Karawanenwege, dort zogen die Männer mit ihren Kamelen voller Weihrauch und Salz durch, um vom Jemen aus ans Mittelmeer zu gelangen. Jordanien ist ein Durchgangsland, doch zumeist waren nur die Männer auf Wanderschaft.

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In Bildern.

Haruen!", "Lauf!", treibt Aisha ihren Esel an. Rund 100 Ziegen trotten um sie herum, ihre Glocken bimmeln, der Esel schnauft. Berg auf. Berg ab. Ein Hügel gleicht dem anderen: sanft gewellt, aber übersät mit Steinen und Geröll. Immer mal wieder löst sich ein Stein und kullert den Hang hinunter, stößt den nächsten an, bis sie von einem Steinhaufen gebremst werden. Leichtfüßig wie ihre Ziegen springt Aisha über die Steine, obwohl sie nur Schlappen trägt und ihr Kleid keine großen Schritte erlaubt.

Im Traum in ferne Welten

Der Esel folgt dem kürzesten Weg durch die Berge, stapft ausgetretene Pfade entlang, so wie es auch die Männer tun, immer der Tradition hinterher, den vorgegebenen Routen. "Mein Geliebter wohnt in Istanbul", sagt Aisha. "Er hat wundschöne blaue Augen." Sie träumt sich fort aus den Bergen des Wadi Feynan. Sie will keine sieben Kinder wie ihre Mutter, höchstens eins oder zwei. Sie will keinen Mann, der auch noch Nebenfrauen hat, wie ihr Onkel, der zehn Kinder mit zwei Frauen hat.

Den faulen Esel muss sie antreiben, die Ziegen laufen von alleine, immer in die gleiche Richtung wie der Esel, aber selten auf dem gleichen Weg. "Ich bin verrückt, nicht?", ruft sie lachend, klatscht in die Hände und singt eine arabische Weise. Das Lied hat sie von ihrer Mutter gelernt. Mit ihr und dem Rest der neunköpfigen Familie lebt Aisha unten im Tal, in einem Zelt, geknüpft aus Ziegenhaar, knapp 20 Quadratmeter groß.

Privatsphäre ist ein Fremdwort. Nur wenn Gäste kommen, wird ein Vorhang aufgehängt, auf der einen Seite schlafen dann die Männer und Jungs, auf der anderen die Frauen und Mädchen. Ihre Mutter ist immer zu Hause: Sie wäscht, kocht, näht und flickt. Früher war auch sie Ziegen hüten, bevor die Kinder kamen - und hat vielleicht auch von einem anderen Leben geträumt, von Liebhabern und Freiheit. Es gibt viele tragische Geschichten, die in den Bergen stattfanden, über die die Menschen nur zaghaft reden. Es sind die arabischen Versionen von Heidi: Berge, Ziegen und ein Peter. Wie wahr sie sind, weiß niemand.

Die Berge behüten ihre Geheimnisse, schreien sie nicht mit einem lauten "Hello! Hello!" hinaus. Die Ziegen kraxeln den nächsten Hügel hinauf, den Blick meist auf den Boden gerichtet, auf der Suche nach Essbarem. Sie fressen ununterbrochen, wo doch alles verdorrt und erstarrt wirkt. Sie fressen, was einem gar nicht als essbar erscheint: trockene Pflanzenreste, die unter den eigenen Schritten knistern, scheinbar zu Staub zerfallen und Teil der Wüste werden. Eine Schlange im gleichen Beige-Ton wie der staubige Boden und dünn wie ein Finger huscht am Wegesrand entlang. Langsam schälen sich aus dem ockerfarbenen Brei Farben und Formen heraus: ein dunkles Weiß hier, ein Eierschalenfarben dort und ein Teigfarben an anderer Stelle.

Sieh mal da", sagt Aisha und zeigt auf einen Ansammlung von Steinen, wie es sie überall gibt. "Das ist ein Grab. Und dort hinten", ihr Finger deutet auf einen feinen Strich in der Landschaft, auf der anderen Seite des Tals, "das ist eine alte römische Wasserleitung." Sie erzählt von den Menschen, die hier einst lebten, von den alten Kupferminen, in denen Christen als Sklaven arbeiten mussten. Sie redet leise und ruhig, will nichts verkaufen, nichts anpreisen. Wenn sie nichts mehr zu sagen hat, dann singt sie - und der Wind trägt ihre Lieder über die Hügel, über die karge Landschaft, füllt die Leere, die mit jedem Höhenmeter größer wird, bis sie oben auf dem Gipfel in ihrer Ganzheit vor einem liegt.

Arabische Tanzmusik aus dem Handy

Das ist die Aussicht, die Aisha und Khalija während ihrer mittäglichen Pause haben. Sie sammeln trockene Pflanzenreste, Holz kann man es kaum nennen, entzünden ein Feuer und kochen ihren Tee, der mehr Zuckersaft mit Teegeschmack ist. Der Blick springt über die Hügel, folgt einer kleinen Echse mit leuchtend blauem Kopf, die sich unter einem Stein versteckt. Man entdeckt Kamele in der Ferne, kaum stecknadelgroß, und das Lehmdach der Lodge, wo Aishas Onkel Abu-Omar arbeitet. Eine halbe Ewigkeit beobachtet man die Ameisen, die sich abmühen, über das Geröll zu wandern, hin zum Teekessel, Süßes naschen, der Versuchung erliegen.

Auf dem Gipfel gegenüber steht ein Junge, nicht mehr als ein Strich in der Landschaft. Ein paar Dutzend Ziegen wuseln auf dem Hang unter ihm herum. Er winkt, ruft etwas auf Arabisch. Die Mädchen kichern, flüstern miteinander. Aisha schüttelt immer wieder den Kopf, Khalija redet auf sie ein. "Es ist Ahmed, ein Freund unseres Bruders", sagt Aisha. "Sein Vater und unser Vater würden es nicht schätzen, wenn wir rübergehen."

Khalija zuckt mit den Achseln und ruft Ahmed etwas zu. Die beiden unterhalten sich eine Weile. Aisha zieht demonstrativ ihr Englischbuch aus der Packtasche des Esels und vergräbt sich darin. Khalija legt sich hin und beobachtet den Vogel, der über ihr kreist. Den Aufwind nutzend gleitet er durch die Lüfte, lässt sich treiben, hinfort.

Eine Weile schweigen die Schwestern sich an, dann packen sie ihre Sachen und ziehen weiter, rüber auf den nächsten Hügel, zu Ahmed, wo der Tee noch warm ist, arabische Tanzmusik aus einem Handy tönt, der Esel mit zusammengebundenen Beinen außer Sichtweite steht und die Ziegen frei und fernab der ausgetretenen Pfade durch die Gegend springen.

Informationen:

Reisearrangements: Rundreisen durch Jordanien veranstaltet Marco Polo Reisen. Eine Woche mit Flug ab 999 Euro. Die Reise kann man beliebig verlängern und einen Abstecher in die Feynan-Ökolodge machen (www.feynan.com), die im Wadi Feynan liegt. Übernachtung mit Frühstück ab 70 Euro. Zu der Ökolodge gelangt man nur mir einem Jeep, der Transport ab Qurayqura kostet rund 18 Euro. In der Ökolodge arbeiten nur Beduinen der Gegend, alles wird selbst hergestellt, es gibt nachts keinen Strom, nur Kerzenlicht. Dort kann man mit Ziegenhirtinnen die Gegend erkunden.

Weitere Auskünfte: Jordanisches Fremdenverkehrsamt, Hamburger Allee 45, Frankfurt am Main, Tel.: 069/71913636; www.visitjordan.com

© SZ vom 29.12.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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