Fraser Island:Auf Sand geschaut

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K'gari - Paradies heißt die größte Sandinsel der Welt in der Sprache der Aborigines. Und das ist nicht übertrieben 120 Kilometer Strand und Regenwald beherbergen Schildkröten, Koalas - und Dingos.

Jochen Temsch

Auf einmal sind da diese schwarzen Augen. Sie sind zu Schlitzen verengt. Dann diese spitzigen Reißzähne. Da steht ein Dingo, keine zwei Sätze entfernt. Er hat sich unbemerkt angeschlichen.

Ein Fraser-Island Dingo in voller Lebensgröße. (Foto: Foto: AP)

Auf den ersten Blick ist er sogar ganz drollig: groß wie ein Schäferhund, schlank, mit sandfarbenem Fell, langen Ohren, weißen Pfoten. Er bellt nicht, knurrt nicht einmal. Aber so leicht darf man sich in der Wildnis nicht täuschen lassen.

Willkommen in Australien, auf Fraser Island im nordöstlichen Bundesstaat Queensland - auf der größten Sandinsel der Welt. Wer hier morgens um halb sechs mit den ersten Sonnenstrahlen aufsteht und am Strand entlangjoggt, hat gute Chancen, die einheimische Tierwelt aus ungewohnten Blickwinkeln zu erleben. In diesem Fall: möglicherweise als Frühstück für einen wilden Hund.

"Be Dingo smart" rät das Faltblatt

Das Herz klopft schneller als beim Rennen. Ein seltsam steinzeitliches Gefühl, als Städter einem Raubtier ausgeliefert zu sein. Aber der Dingo war zuerst da, vor 4000 Jahren brachten Asiaten seine Urahnen nach Australien.

Fraser Island ist berühmt für seine 200 reinrassigen Exemplare, die lange Zeit als harmlos galten - bis sie weltweit in die Schlagzeilen kamen. Von Fütterungen durch Touristen aggressiv gemacht, gingen Dingos auf Menschen los, jagten und töteten einen neunjährigen Jungen in der Nähe eines Zeltplatzes.

Weiterjoggen, sprich wie Beute wegrennen ist die schlechteste Idee. Das überall ausliegende Faltblatt "Be Dingo smart" rät: still stehen, Arme verschränken, Brust raus, dem Tier fest in die Augen schauen. Trotzdem wandert der Blick hilfesuchend in alle Richtungen.

120 Kilometer Sand

Hinten brandet schaumig und wild der Pazifik - voller Haie, lebensgefährlicher Strömungen - absolut keine Option. Rechts und links: Strand so weit man sieht. Dies ist der 75 Mile Beach, mit 120 Kilometern so lang wie die gesamte Insel, und um diese Zeit völlig menschenleer - bis auf das Frühstück in Shorts und Turnschuhen.

Der Dingo zeigt noch mehr spitze Zähne. Die Gedanken des Joggers sprinten durcheinander: Was hat da der Ranger über das richtige Verhalten bei Begegnungen mit Dingos gestern beim Bier gesagt, als alle über die Warnungen lachten?

Der Ranger heißt Peter Meyer. Er war zehn Jahre alt, als er einen Teil von sich für immer an Fraser Island verlor, nämlich einen Zeh. Der kleine Peter war zu Besuch bei Freunden seiner Eltern. Die ließen den Jungen mit einem dreirädrigen Motorrad herumkurven. Er fräste den Strand entlang, eine Düne hoch - gegen einen Pandanusbaum.

Sein Fuß war unter dem Pedal eingeklemmt, und das war's dann mit dem Zeh, gerade mal drei Stunden, nachdem er Fraser Island zum ersten Mal berührt hatte. Aber diese Insel - 120 Kilometer lang, 15 Kilometer breit, aus angeschwemmtem Sand entstanden - ließ Peter Meyer nicht mehr los.

Jahre später kehrte er zurück, als Fremdenführer und Naturfotograf. Manchmal, sagt er, frage er sich, was wohl mit seinem Zeh passiert sein mag. Ob ihn ein Dingo gefressen hat? Und während er diese Geschichte erzählt, rast er schon wieder durch den Sand, diesmal in einem allradgetriebenen, klimatisierten Lkw voller Touristen.

Queensland
:Fraser Island

Regenwald, Süßwasserseen und Strand soweit die Füsse tragen.

Der 75 Mile Beach gehört zum regulären australischen Straßennetz - eine abartige Vorstellung für umweltbewusste Europäer, aber ein kleines Auto ab und zu kann diese großartige Natur nicht stören. Asphaltierte Straßen gibt es ohnehin nicht.

Doch die Sandpisten sind nur etwas für Geübte. Auf der körnigen Unterlage schwimmt das Fahrzeug wie auf frischem Schnee. Sich selbst überschätzende Familienväter in Pseudo-Geländewagen sinken oft bis über die Räder ein, blockieren die Wege oder müssen mit Frau und Kindern im Auto übernachten - aus Angst vor Fußmärschen, wenn die Dingos heulen.

Queensland
:Great Barrier Riff

Ein bedrohtes Tauchparadies.

Gut gelaunte Vorzeige-Aussies

Unebenheiten in der Fahrbahn sieht man im grellen Licht äußerst schlecht. Peter Meyers Passagiere hält es in dem argen Geschüttel und Geschlinger nur mit eng anliegenden Gurten auf den Sitzen.

Aber der Ranger wuchtet seinen Fuß auf das Armaturenbrett, in voller Fahrt, damit auch die Leute in der hintersten Reihe seinen fehlenden Zeh in der Sandale sehen. Er ist ein Entertainer. Gut gelaunte Vorzeige-Aussies mit notorischer "No worries"-Einstellung wie Peter Meyer sind die beste Werbung für diesen einmaligen Flecken Erde.

Es gibt wohl kaum einen anderen Ort auf der Welt, an dem sich wie hier mehlweiße Sanddünen, dichter Regenwald aus Tausende Jahre alten Bäumen, türkisfarbene Süßwasserseen und der Pazifik berühren. Dazu kommt ein sagenhafter Artenreichtum an Pflanzen und Tieren, von Rochen am Meeresgrund bis zu Osprey-Falken mit Fischen in den Krallen am Himmel.

Süßwasser im Überfluss

Wegen der Schildkröten und Delfine wimmelt es jedoch auch von deren Jägern, den Haien. Zum Baden geht man besser in einen der Binnenseen. Zum Beispiel in den Lake Wabby oder den Lake McKenzie, die sich, umgeben von blendend weißen Sanddünen, schwer erreichbar, völlig unwirklich in tiefstem Dunkelblau auftun.

An Oasen wie diesen zeigt sich: Fraser Island ist wie ein Schwamm. Aus zahlreichen Quellen sprudelt täglich so viel Wasser, dass es für eine Großstadt wie Brisbane reichen würde. Für Peter Meyer ist es das leckerste Wasser überhaupt. Er sagt, wenn er für längere Zeit aufs Festland müsse, nehme er einen Kanister davon mit, weil er ohne nicht leben könne.

Für die bei 36 Grad im Pandanusschatten schwitzenden Touristen ist es feinstes Badewasser. Sie springen johlend hinein - und fordern eine Bestie heraus. Aber kein Hai, kein Krokodil, sondern ausgerechnet eine Ente greift wild schnatternd an und verteidigt ihre Jungen.

Zuerst lachen die naiven Plantscher noch, aber das verrückte Federvieh taucht unter, sucht sich einen der Eindringlinge aus, beißt ihm in den Oberschenkel. Noch nie hat Peter Meyer eine Badegruppe so schnell aus dem Lake McKenzie flüchten sehen. Er schwört, diese Story in allen Einzelheiten an allen Theken Fraser Islands herumzuerzählen.

Großes Gelächter, ein paar Dosen Bier aus der Kühltasche, dem immer griffbereiten "Eskie", und dieser grandiose Blick über den See: In diesem Moment werden alle andächtig still, und es ist völlig klar, warum Fraser Island in der Sprache der Aborigines K'gari heißt - Paradies.

In der Sprache der Unesco klingt das weniger poetisch: Weltnaturerbe. Und als Tourist schläft man darauf am besten im "Kingfisher Bay Resort", einem ökologisch geführten Hotel, das den Respekt vor der Natur auch auf der Menü- und Cocktailkarte zeigt.

Viele Zutaten sind "Bush-Takka" - Nahrung aus dem Regenwald, zum Beispiel spezielle Arten von Anis, Ingwer, Hibiskus, Tomaten, Nüssen und Samen. Wer es noch naturnäher will, kann in einem Zeltcamp absteigen, zum Beispiel am Cathedral Beach, wo man nachts den Pazifik rauschen hört und das Quaken der Cane Toats, der zur Landplage gewordenen, aus Hawaii ursprünglich zur Schädlingsbekämpfung eingeführten Kröten.

Wie beschimpft man einen Dingo?

Für Ranger Peter Meyer sind allerdings Koalas das Beschränkteste, was es gibt. Er erzählt, dass ihr Gehirn so winzig sei wie eine Haselnuss, und wenn ihnen ein Junges aus dem Beutel heraus in den Tod stürze, würden sie deswegen keine Sekunde lang mit ihrem stupiden Blättermampfen aufhören. Aber diese grauen Flauschekerlchen so nah in freier Wildbahn zu sehen ist ein großes Glück, das längst nicht jedem Touristen zuteil wird.

Mit den Dingos ist das ähnlich. Zum Zuschnappen dicht kommen sie selten heran. So rasen die Gedanken durcheinander. Der Dingo am 75 Mile Beach von Fraser Island macht einen Schritt nach vorn. Jetzt knurrt er. Und was hat Ranger Meyer dazu gesagt?

Endlich kommt die Erinnerung. "Du musst sie anschreien", sagte er. "Aber was soll ich sagen?", fragte einer aus der Runde. Darauf der Ranger: "Sag: ,Deine Mutter war ein Chihuahua und hat es mit einem Pekinesen getrieben!'".

Auf Englisch kommt der Spruch nicht besonders flüssig in diesem Moment. Aber der Dingo versteht ihn - und trollt sich. Lang lebe Peter Meyer! Vor zwei Jahren hat er einen Bildband mit Fotos von Fraser Island veröffentlicht. Eine Hommage an Farben- und Formenspiele von Meer, Sand und Pflanzen.

Darin gibt es eine Aufnahme von Peter Meyers Fußspur am Strand, mit allen Zehen dran. Darauf angesprochen, erzählt Meyer, er habe das fehlende Glied für das Foto mit einem Fingerabdruck ersetzt. Er wollte, dass sein Abdruck vollkommen sei - wie die Natur, an die er einen Teil von sich verlor.

© SZ vom 14.06.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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