Neuer Übergangspräsident benannt:Tunesien‎ am Rande der Anarchie

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Die Lage in Tunesien spitzt sich zu. Offenbar greifen Elite-Polizisten des Ex-Präsidenten Soldaten an. Übergangspräsident Mbazaa versucht das Machtvakuum zu füllen.

Inmitten von Chaos und Gewalt haben in Tunesien Verhandlungen über die Bildung einer neuen Regierung und vorgezogene Wahlen begonnen. Eine Koalition unter Beteiligung der Opposition soll das Land befrieden und das Machtvakuum füllen, das nach der 23-jährigen Regentschaft des außer Landes geflohenen Staatschefs Zine al-Abidine Ben Ali entstanden ist.

Bei Protesten treffen Demonstranten und Polizisten aufeinander: In Tunesien geraten die Zustände zusehens außer Kontrolle. (Foto: dpa)

Vor dem tunesischen Innenministerium in Tunis lieferten sich Soldaten am Samstag offenbar ein Feuergefecht mit Angreifern. Zu den Zusammenstößen kam es kurz nach der Vereidigung des Übergangspräsidenten.

Journalisten beobachteten, wie zwei Menschen nach dem Schusswechsel am Boden lagen. Ob sie tot oder verletzt waren, blieb zunächst unklar. Auf den Dächern des Innenministeriums wurden Scharfschützen gesehen.

Dramatische Entwicklungen soll es auch andernorts gegeben haben: Tunesische Soldaten setzten angeblich Hunderte Elite-Polizisten des geflohenen Präsidenten Zine el Abidine Ben Ali fest. Das wurde am Samstag aus Sicherheitskreisen bekannt. Ihnen wird vorgeworfen, für die gewaltsame Eskalation bei den Massen-Demonstrationen der vergangenen Tage in Tunesien verantwortlich gewesen zu sein. Mehrere von ihnen stehen zudem im Verdacht, an Plünderungen und Zerstörungen beteiligt gewesen zu sein.

In der Hauptstadt Tunis feuerten bewaffnete Angreifer am Samstag aus fahrenden Autos wahllos auf Passanten. Ein Einkaufszentrum stand in Flammen. In der Innenstadt gingen Soldaten mit Panzern in Stellung, um nach den nächtlichen Plünderungen die Ordnung wiederherzustellen.

Viele Tote bei Gefängnisaufstand

Bei Massenausbrüchen aus den Gefängnissen im Urlaubsort Monastir und in Mahdia kamen viele Menschen ums Leben. Nach Behördenangaben haben Soldaten in einem Gefängnis in Mahdia das Feuer auf Häftlinge eröffnet, nachdem diese rebelliert hätten, teilte ein Beamter mit. Nach seinen Schätzungen wurden dabei fünf Menschen getötet. Um weitere Tote zu verhindern, habe der Gefängnisdirektor rund 1.000 Häftlinge freigelassen, sagte der Beamte.

Die politische Elite versucht unterdessen den anarchischen Zuständen entgegenzuwirken. Nach der Flucht Ben Alis ernannte der Verfassungsrat Parlamentspräsident Fouad Mebazaa für eine Übergangszeit zu dessen Nachfolger.

Mebazaa kündigte eine Regierung der nationalen Einheit an, binnen 60 Tagen sollen Präsidentenwahlen stattfinden. In Militärkreisen wurde vermutet, dass Verbündete Ben Alis hinter den bewaffneten Angreifern steckten, die schießend durch die Stadt fuhren. Experten spekulierten über eine Beteiligung der Präsidentenpolizei.

Im Zentrum von Tunis errichteten Soldaten Straßensperren. Nach der Flucht Ben Alis waren nach Angaben von Einwohnern marodierende Banden durch die Stadt gezogen, hatten Gebäude in Brand gesetzt, geplündert und Menschen angegriffen.

In den Arbeitervierteln am Rande von Tunis bewaffneten sich Anwohner mit Metallstangen und Messern, um Plünderer abzuwehren. Als Zeichen des Machtwechsels nahmen Arbeiter vor der Zentrale von Ben Alis RCD-Partei ein Porträt des ehemaligen Präsidenten ab, der nach wochenlangen Protesten mit Dutzenden Toten am Freitag ins saudi-arabische Dschidda geflohen war. Frankreich hatte eine Einreise zuvor abgelehnt. In Tunesien wurden unterdessen Mitglieder von Ben Alis Familie laut Ministerpräsident Mohamed Ghanouchi festgenommen.

Übergangspräsident Mebazaa beauftragte Ghanouchi mit der Bildung einer Koalitionsregierung. Der Ministerpräsident hatte zuvor mit Vertretern der Opposition gesprochen. Dabei habe Ghannouchi den Vorschlag einer Koalitionsregierung akzeptiert, sagte der Vorsitzende der Union für Freiheit und Arbeit, Mustafa Ben Jafaar.

Am Sonntag sollten nach einem weiteren Treffen die Verhandlungsergebnisse verkündet werden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte Übergangspräsident Mebazaa zu einem grundlegenden Politikwechsel auf. "Gehen Sie auf die protestierenden Menschen zu und führen Sie wirkliche Demokratie ein", erklärte sie.

Menschenrechte, Presse- und Versammlungsfreiheit seien unabdingbar. Zugleich sagte Merkel die Unterstützung Deutschlands und der Europäischen Union für einen solchen Neuanfang zu. Der Reiseveranstalter Thomas Cook hatte in der Nacht zum Samstag die ersten von etwa 2000 deutschen Touristen aus Tunesien nach Deutschland ausgeflogen.

Auch der TUI-Konzern wollte seine Urlauber möglichst rasch zurückholen. Das Auswärtige Amt rät wegen der gespannten Lage von Reisen nach Tunesien ab.

"Wir sind froh, nach 23 Jahren im Gefängnis frei zu sein", sagte Fahmi Bouraoui, der in einem der wenigen geöffneten Geschäfte in Tunis am Samstag einen Kaffee trank. Einige Demonstranten kündigten jedoch Widerstand gegen die Machthaber der alten Elite an.

Sie wollen "den zivilen Ungehorsam fortsetzen, bis das Regime fort ist", wie Fadhel Bel Taher deutlich machte, dessen Bruder unter den Dutzenden Todesopfern der Proteste ist. "Die Straße hat gesprochen", sagte er.

Auch die Unternehmensberatung Eurasia erwartet trotz Ben Alis Flucht keine rasche Entspannung der Situation. "Wenn Ghanouchi keinen festen Zeitplan für vorgezogene Präsidentenwahlen verkündet und keine Übergangsregierung mit prominenten Oppositionspolitikern bildet, könnte dies die Menschen zurück auf die Straßen treiben", erklärte Eurasia.

Die Gewalt auf den Straßen von Tunis und die rasche Abfolge der Ereignisse versetzen die arabische Welt in Aufregung. Zahlreiche autokratische Herrscher verteidigen dort zwar seit langem ihre Macht, geraten aber zunehmend unter Druck durch eine protestierende Jugend, wirtschaftliche Probleme und militanten Islamismus.

Der Westen hat sich lange zurückgehalten, weil diese Machthaber als Bollwerk gegen den Islamismus gelten.

© Reuters/dpa/AFP/segi - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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