Zum Tod von Boris Jelzin:Der Mann mit der Axt

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Er war ein Machtmensch und Macher: Seit Lenin hat kein anderer russischer Politiker das Riesenreich derart brutal von den Füßen auf den Kopf gestellt - und dabei unzählige politische und persönliche Krisen durchlebt.

Tomas Avenarius und Daniel Brössler

Am Ende war alles anders. Es gab keine ärztlichen Bulletins, die umgehende Genesung versprachen. Weder von Erkältung war die Rede noch von einer Infektion, die ernst sei, aber nicht bedrohlich. Das Herz des Boris Jelzin ist einfach stehen geblieben. Ohne Vorankündigung.

Der Mann, um dessen Gesundheit einst ein ganzes Volk, ja die ganze Welt gebangt hatte, ist im Stillen gestorben. 76 Jahre alt wurde der Begründer des neuen, des nach-sowjetischen Russlands. Die Ära Jelzin indes hatte bereits viel früher geendet mit dem dramatischen Rücktritt des ersten frei gewählten russischen Präsidenten. Obwohl - Präsident war immer zu wenig für einen wie Jelzin. Das Wort Herrscher wirkte passender, wegen des autokratischen Beiklangs.

Der alternde Herrscher also hatte sich schon zu seiner Zeit im Wissen des Machtmenschen um die Kraft der großen Geste ein historisches Datum ausgewählt. Zur Jahrtausendwende sagte er dem Volk und der Welt: "Ich gehe."

Der vorzeitige Rücktritt war verbunden mit der Bitte um "Verzeihung, dass nicht alle unsere Hoffnungen sich erfüllt haben". Der Sprung von einer grauen, totalitären Vergangenheit in eine "helle, reiche und zivilisierte Zukunft" sei schwerer und langwieriger, als er selbst erwartet habe, sagte Jelzin. "Ich war in mancher Hinsicht zu naiv."

Zornige Abrechnung

Boris Jelzin. Seit Lenin hatte kein anderer russischer Politiker das Land derart brutal von den Füßen auf den Kopf gestellt. Jelzin war ein Revolutionär - er hat die alte Ordnung abgeschafft. Der frühere KP-Funktionär schlug den Sowjetstaat in Trümmer - und versuchte sich dann am Aufbau eines neuen Russland. Die Republik, die er dabei geschaffen hat, war irgendwo angesiedelt zwischen einer Demokratie mit autokratischen Zügen und einer Autokratie mit demokratischem Dekor.

Die genaue Einordnung hing nicht davon ab, wie wohlmeinend einer die Figur Jelzin beurteilt. Es hing daran, ob man die Härten der Jelzinschen Gegenwart zum Maßstab macht oder auf die spätere - oft vage - historische Größe verweist. Letztere kommt Jelzin zweifelsfrei zu. Ein anderes ist ebenso sicher: Sein Ziel, ein demokratisches Russland zu schaffen, hat Boris Jelzin verfehlt.

Ungehört verhallt ist auch seine Bitte um Vergebung. Wladimir Putin, der Mann, der ihm im Kreml nachfolgte, ließ Jelzin persönlich ungeschoren, feierte gar mit ihm dessen 75. Geburtstag. Umso zorniger aber rechnete Putin mit allem ab, was sich in Russland mit der Jelzin-Ära verbindet. Die Präsidentschaft Putins ist eine Antithese zu jener Jelzins.

Es waren weniger die Überzeugungen gewesen als der Charakter, der Jelzins Herrschaft bestimmte. Das langwierige, geduldige Bohren der dicken politischen Bretter war nie das Geschäft des Boris Nikolajewitsch. Der hochgewachsene Mann mit der Silbertolle sah das Land lieber auf dem Hackklotz und griff entschlossen zur Axt: Die Auflösung der Sowjetunion - aus der Sicht vieler Menschen war sie nicht nötig - hätte zumindest anders verlaufen sollen.

Der neue starke Mann gab den Russen und den anderen Sowjetvölkern die Freiheit und nahm ihnen im nächsten Zug praktisch alles: den bescheidenen Wohlstand, die Nation, ihre Geschichte, die Ideologie und jede Perspektive auf eine sich rasch einstellende bessere Zukunft. Die russischen Wirtschaftsreformen der Jahre 1991, 92 und 93 - sie waren unausgegoren, widersprüchlich und von ungeheuerlicher Brutalität dem Volk gegenüber.

Was später folgte, war auch nicht besser: Der Ausverkauf des nationalen Wirtschaftsbestandes an ein paar skrupellose Unternehmer und Bankiers, die die Sowjetwirtschaft ausschlachteten zum eigenen Vorteil - und zum Nachteil aller anderen.

Politisch setzte Jelzin auf Konfrontation, Konsens war selten sein Thema. Im Herbst 1993 brachte er den Obersten Sowjet, das alte, sowjetisch geprägte Parlament, zur Räson - mit Hilfe des Militärs. Statt mit den national-kommunistischen Abgeordneten zu verhandeln, ließ der Präsident das Parlament von Panzern zusammenschießen: auf eine Jelzin genehme politische Bedeutung. Die Volksvertretung als Hauptsäule des demokratischen Staates war für den ideologiefreien Pragmatiker Jelzin ohnehin nie wichtig: Demokratie war für ihn ein Synonym für seine Präsidialherrschaft.

Auch den abtrünnigen Tschetschenen gegenüber orientierte Jelzin sich am Vorbild russischer Autokraten: Der Kremlherr hat das am Ende sogar selbst eingesehen - und es als "schlimmsten Fehler meiner Amtszeit" bezeichnet. Eingeständnisse wie diese haben die Russen von Putin noch nie gehört.

Solches aber gehörte zu Jelzins Größe, von der viele in Russland allerdings zuletzt nichts mehr wissen wollten. Dabei hat Jelzin das neue Russland in einer Zeit des Chaos zusammengehalten, er hat die ex-sowjetischen Truppen aus Deutschland abgezogen und er hat den offenen inneren Konflikt verhindert in einem Land, das in seiner Geschichte oft genug zu Ausbrüchen äußerster Gewalt, auch zu Bürgerkrieg, fand.

Die Lebensgeschichte des Boris Nikolajewitsch Jelzin ist oft erzählt worden, auch von ihm selbst in seinen Memoiren. Geboren am 1. Februar 1931 in einem Bauerndorf namens Butka im Ural. Jelzins Großvater und der Vater wurden Opfer der Stalin-Repressionen, saßen im Lager. Die Familie zog später nach Swerdlowsk, dem heutigen Jekaterinburg.

"Meine Kindheit war hart", schrieb Jelzin in seinen Memoiren, "wir lebten sehr ärmlich." Die Kinder schliefen auf dem Boden in der Baracke, die der Familie als Haus diente. Um sich im Winter zu wärmen, legten sie die Milchziege zwischen sich. Jelzin, angetrieben von eisernem Willen, profilierte sich als Sportler, machte Karriere im Beruf, in der Partei. Der Bauingenieur war berüchtigt für Arbeitswut, Disziplin und Selbstsucht.

Er räumte auf mit den verlotterten Sowjet-Baustellen rund um Swerdlowsk, kämpfte gegen die treuesten Stützen des Sowjetsystems, den Suff und den Schlendrian. Jelzin kontrollierte persönlich den Sitz der Türklinken, stapfte auch am Sonntag über die Gerüste.

Auf der Seite des Volkes

So wurde er bekannt und zum Partei-Sekretär von Swerdlowsk. Swerdlowsk, das war eines der wichtigsten Industriegebiete der UdSSR, und der Parteichef war der unumschränkter Herrscher der Region. Jelzin spielte diese Macht so aus, wie er es als Chef auf seinen Baustellen getan hatte: Stets an der Sache und dem eigenen Ruhm zugleich orientiert, dabei hart und unkonventionell gegen den Sowjet-Schlendrian vorgehend.

Die Rolle des Rammbocks im politischen Geschäft war dem hünenhaften Mann auf den Leib geschneidert. Hinzu kamen Charisma und populistisches Talent: Der Parteichef zog durch die Industriebetriebe, setzte sich zu den Studenten in den Hörsaal, reihte sich am Ende der Schlangen vor den Geschäften ein. Im Gegensatz zu den anderen Sowjetfunktionären stellte Jelzin sich den Bürgern. Statt im Büro geschönte Berichte zu lesen, ließ er sich von den Betroffenen von Defizit und Misswirtschaft erzählen.

Der Provinz-Parteiposten war das Vorzimmer zum KP-Olymp: Zentralkomitee und Politbüro. Sowjetreformer Michail Gorbatschow, der von dem radikalen Bau-Apparatschik gehört hatte, holte diesen 1985 nach Moskau. Er machte den Mann aus Swerdlowsk zum Chef der Hauptstadt-Verwaltung, unterstellte ihm zudem die Moskauer KP-Sektion. Jelzin sollte Moskau aufräumen und die Hauptstadt-Partei auf Gorbatschows Reformkurs bringen.

Doch der Rammbock Jelzin und der sich immer mehr zum Zauderer entwickelnde Gorbatschow, das ging nicht gut. Als Jelzin mit der Perestroika auf seine Art Ernst machte, wurde er von Gorbatschow aus dem KP-Establishment verstoßen: Dies war die Grundlage für die bis zu Jelzins Tod anhaltende Gegnerschaft zwischen dem letzten Sowjet-Staatschef und dem ersten russischen Präsidenten.

Die Personifizierung des "demokratischen Russland"

Aus dem KP-Funktionär Jelzin wurde so der KP-Dissident Jelzin, der sich gegen den Willen Gorbatschows dem Volk zur Wahl stellte und - noch zu Sowjetzeiten - ins russische Parlament gewählt wurde. Spätestens mit diesem Schritt hatte Jelzin die Seiten unwiderruflich gewechselt: aus dem Lager der Partei hinüber auf die Seite des Volkes.

Als im August 1991 die KP- und KGB-Kamarilla gegen Gorbatschow putschte, war Jelzins Stunde gekommen. Auf einem Panzer vor dem Weißen Haus in Moskau stehend, symbolisierte er den Widerstand gegen den Machtanspruch der Partei. So wurde er, vor allem auch im Ausland, zur Personifizierung des "demokratischen Russland".

Jelzin konnte den Putschisten die Stirn bieten, weil er KP-Funktionär und KP-Dissident in einem war. Im Kampf gegen die Partei vereinigte er die Energie der demokratischen Opposition mit den Machtambitionen der nachwachsenden, moderner denkenden Sowjet-Elite, die mit der UdSSR und ihrer KP-Ideologie längst abgeschlossen hatte.

Im Angesicht dessen, was sein Duz-Freund Helmut Kohl pathetisch den ,,Mantel der Geschichte'' nannte, begnügte der Russe sich allerdings nicht mit dem Rockzipfel. Jelzin legte sich den Mantel gleich selbst um die Schultern: Nach dem Scheitern des Putsches löste er die KPDSU auf, dann drängte er Gorbatschow zur Seite und machte der Sowjetunion den Garaus.

In seinen Erinnerungen hat Jelzin eingestanden, dass er bei seinen großen Entscheidungen oft nicht absehen konnte, was diese bewirken würden. "Aber ich spürte, dass solche Entscheidungen leichten Herzens getroffen werden müssen."

Es folgte die wilde Phase des neuen Russland. Die Wirtschaft brach zusammen, Jelzin reagierte mit der "Schocktherapie" der jungen Liberalen, einer handvoll unerfahrener Wirtschaftsexperten. Bis heute ist offen, ob die Reformen der Liberalen zu radikal waren oder nicht radikal genug; sie wurden nie zu Ende gebracht.

Jelzin jedenfalls verlor mit den Härten der Reformen das Vertrauen der rasch verarmenden Bevölkerung. Und auch Russlands Demokraten waren enttäuscht von dem früheren Idol: Jelzin sei der Aufbau wirklich freiheitlicher Strukturen im Lande gleichgültig. Ob gleichgültig oder nicht - Jelzin gab der Wirtschaft den Vorrang. Mittlerweile sind Russlands Demokraten eine Gruppe am Rande der russischen Gesellschaft. Nach einem wie Jelzin sehnen sie sich, bei allen Mängeln, zurück.

Die Regie der Einflüsterer

Jelzin selbst hatte, solange er der Oppositionspolitiker war, die Demokraten gebraucht. Nachdem er die Macht hatte, wandte er sich den alten und neuen Apparatschiks zu. Jelzin, der fast immer aus dem Bauch reagierte und regierte, dachte immer sehr taktisch und oft zu kurzfristig.

Auf das Aufbegehren der Kleinvölker, auf deren Ruf nach Autonomie und Unabhängigkeit folgte sein berühmtes: "Nehmt euch so viel Unabhängigkeit, wie ihr verdauen könnt." Es war vermutlich nur Taktik, keine Überzeugung. Er suchte die Unterstützung der Regionen. Am Ende erlangte keines der von den Zaren mit dem Kolonialknüppel unterjochten Völker echte Freiheiten. Als die aufsässigen Tschetschenen sich die Souveränität zu nehmen versuchten, warf der Großrusse Jelzin Bomben.

Spätestens mit dem Beginn des Tschetschenienkriegs 1995 liefen Jelzin die Dinge aus dem Ruder. Nach seiner Wiederwahl 1996 wirkte er gebrochen, wurde eine Karikatur seiner selbst. Gesundheitlich angegriffen, phasenweise vom Alkohol abhängig, teilweise in Depression verfallend, geriet er vollends unter den Einfluss der Berater und Einflüsterer. Erst war er abhängig vom Rat seines obersten Leibwächters, später von einer Handvoll Bankiers und Unternehmer.

Die Oligarchen hatten seine Wiederwahl ermöglicht - ohne ihre Dollar-Millionen und die Medienmacht wäre Jelzin seinem kommunistischen Gegner Gennadij Sjuganow unterlegen gewesen. Jelzin beglich die Schuld für die Hilfe zur Wiederwahl: Er gab den Oligarchen den Weg frei für die rücksichtslose Verfolgung eigener Wirtschaftsinteressen auf Kosten des Landes.

Putin benahm sich nie wie der Ziehsohn Jelzins

Erst ganz am Schluss - Jelzin war längst angeschlagen von schweren Korruptionsvorwürfen gegen seine eigene Familie - schien er noch einmal die Politik zu gestalten. Seinem Wunsch-Nachfolger Putin bereitete er den Weg nach Jelzin-Art: Mit einem zweiten Tschetschenien-Krieg wurde der neue, der junge, starke Mann populär gemacht, mit von Schmutzkampagnen und Manipulationen geprägten Wahlkämpfen der Opposition die Niederlage beigebracht.

Ob die "fassaden-demokratische" Einsetzung Putins zum neuen Präsidenten wirklich noch Jelzins Werk war, oder ob bereits alles der Regie seiner Einflüsterer entsprang? Zumindest der Geist des Politikers und Machtmenschen Jelzin aber war zu spüren in der Raffinesse und Rücksichtslosigkeit, mit der dieser sechs Monate vor Jelzins Rücktritt weitgehend unbekannte Geheimdienstmann Putin in den Kreml gebracht wurde. Wie ein Ziehsohn aber hat sichh Putin nie benommen. Jelzins Reichtümer rührte er nicht an, seinen Nachruhm schon.

© SZ vom 24.4.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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