Etwas Gutes hat diese Krise, die den Kontinent nun schon im fünften Jahr plagt: Sie zwingt die Europäer, sich aus der Welt der Wünsche zu verabschieden und im Reich der Realität einzurichten. Sie konfrontiert sie wie selten zuvor in der Geschichte der Europäischen Union mit der Frage, was ihnen gemeinsam ist und was sie trennt. Dabei erlaubt sie keine Ausreden, denn es geht um die Existenz der Union. Diese Krise reicht weit über ihren finanz- und wirtschaftspolitischen Kern hinaus. Sie erschüttert die zentrale Gewissheit, wonach sich Europa wenn auch unter Qualen aber unausweichlich immer weiter in Richtung eines Bundesstaates entwickelt.
Die unerbittliche Herausforderung der Krise zeigt vielerlei: dass zwischen den Europäern zwar einiges möglich ist, sehr vieles aber eben nicht; dass die Nationalstaaten stärker sind als geglaubt; dass die Völker weniger europäisch sind, als gehofft; und dass Größe allein noch keine Antwort auf die Probleme der Welt ist.
Die Zeit ist vorbei, in der man es sich leisten konnte, diese nüchternen Erkenntnisse mit schönen Reden zu übertünchen. Die Zeit ist gekommen für einen neuen europäischen Realismus. Unter den Staats- und Regierungschefs hält dieser Realismus bereits Einzug. Sie haben immer weniger Lust, Brüssel mehr Macht und mehr Zuständigkeiten zu geben. Diese Reformmüdigkeit ist zwar auch der Tatsache geschuldet, dass der Druck der Märkte auf die Politik nachgelassen hat. Doch diesmal ist die Verweigerung grundsätzlich. Üblicherweise lösten Krisen in Europa einen Reformschub aus. Doch diesmal bleibt die in Brüssel erhoffte Katharsis aus.
Notoperationen am Währungssystem, aber kein großer politischer Sprung
In ihrem täglichen Kampf mit den Märkten und der realistischen Gefahr gleich mehrerer Staatsbankrotte mussten die nationalen Regierungen nämlich erkennen, dass ihre gemeinschaftliche Basis dünn ist. Sie reicht gerade so aus für Notoperationen am Währungssystem, für den großen politischen Sprung aber nicht. Der niederländische Außenminister Frans Timmermanns brachte das nüchtern auf den Punkt: "Die Zeiten einer immer engeren Union liegen hinter uns." Das ist deswegen ein bemerkenswerter Satz, weil er erstens die Stimmungslage vieler Regierungen widerspiegelt. Zweitens aber kassiert er das in der Präambel des EU-Vertrags formulierte Ziel ein, eine "immer engere Union der Völker Europas" schaffen zu wollen. Eine bemerkenswerte Wende zeichnet sich also ab.
Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel ist auf diese neue, bewahrerische Linie eingeschwenkt, nachdem sie einige Zeit lang mit der Idee geliebäugelt hatte, den Schub der Krise für Vertragsänderungen nutzen zu wollen. Heute tut man das Notwendige, um die Währung und die Banken zu sichern und die Wirtschaft in Gang zu setzen. Brüssel aber erhält keine neue Macht. Dort darf koordiniert werden - regiert wird von den Mitgliedsstaaten.
Aus der Perspektive der Kommission und des Parlamentes sowie des harten Kerns der europäischen Integrationisten verspielen die Mitgliedsstaaten mit dieser Politik die historische Chance. Sie glauben, Europa stärker und besser zu machen, wenn sie den Ländern die Macht nehmen und zentralisieren. Das ist eine verständliche aber falsche Sicht. Sie übersieht, dass die Europäer noch lange nicht bereit sind, sich zu einem staatsähnlichen Gebilde zu vereinigen oder sich wenigstens auf den Weg dahin zu machen.
Europa steckt voller historischer, kultureller und politischer Brüche
Entgegen vieler Grabreden ist der Nationalstaat nicht tot. In der Krise haben die Regierungen gehandelt, wer sonst? Sie haben es nicht immer richtig gemacht und brillant eigentlich nie, aber nur sie geniesen den Rückhalt ihrer Völker, ohne den die Rettungsmilliarden nicht hätten mobilisiert werden können. Brüssel hätte diese Unterstützung nicht aufgebracht.
Auch eine genuin europäische Außen- und Sicherheitspolitik gibt es nicht. Zu verschieden sind die Interessen der Mitgliedsstaaten, wenn es um die Beziehungen zum Rest der Welt oder gar um Krieg und Frieden geht. Wie tief die Gräben sind, zeigt ein anderes Thema: Vierzehn Jahre lang hat die EU gebraucht, nur um sich auf Standards in der Asylpolitik zu einigen. Wie lange würde man wohl brauchen, um eine gemeinsame europäische Arbeits- und Sozialpolitik zu beschließen?
Seitdem sich die Krisenpolitik darauf konzentriert, die strukturellen Wirtschaftsprobleme anzugehen, wächst die Einsicht, dass es keine Formel gibt, in die sich alle Lebens- und Geschäftsmodelle von Finnland bis Zypern pressen lassen. Europa steckt voller historischer, kultureller und politischer Brüche. Die Folgen der Erweiterung der Union nach Süden und Osten sind noch lange nicht verarbeitet. Die Menschen empfinden eine geringe Bindung an die Gemeinschaft. Deswegen spricht vieles dafür, jetzt zumindest in der Abteilung große Reform oder Vertragsänderung nichts zu tun.
Der Vertrag von Lissabon mag nicht perfekt sein, aber die Geschäfte der EU lassen sich mit ihm regeln. Wer ihn in dieser von Ängsten, Unsicherheit und einer wachsenden Euroskepsis geprägten Zeit zur Disposition stellt, öffnet den Weg ins Desaster. Einigen Ländern, Großbritannien an der Spitze, ist die europäische Sache eh schon zu weit gegangen. Ein großer Reformversuch würde deshalb wohl mit einem Integrationsrückschritt enden.
Natürlich hat die Krise ihre Spuren im institutionellen und politischen Gefüge hinterlassen und die Gewichte verschoben. Der Europäische Rat, in dem die Staats- und Regierungschefs sitzen, hat an Macht gewonnen und gedenkt auch nicht, sie wieder her zu geben. Das ist gewiss ärgerlich für Kommission und Parlament, aber kein Grund, über eine Renationalisierung der EU zu lamentieren. Weder ist Brüssel ein Hort höherer europäischer Weisheit, noch handelt es sich beim Europäischen Rat um eine Bande europäischer Renegaten.
Man kann es auch als Glücksfall betrachten, dass die Krise die Staats- und Regierungschefs zu mehr Verantwortung gezwungen hat. Die können sie nun nicht mehr abgeben und Brüssel die Schuld anlasten, wenn wieder etwas schief geht. Bei allem Streit waren die vielen Krisengipfel doch immer auch Bekenntnisse zur Gemeinsamkeit in Europa. Für die Existenz der Union wiegt das viel.
Den Staats- und Regierungschefs erwächst aus der in der Krise gewonnenen Macht allerdings auch eine Pflicht: Sie dürfen sich nach der Phase der Konsolidierung nicht zurück lehnen; sie sind nun verantwortlich für die Lektionen aus der größten Krise, die Europa nach dem Zweiten Weltkrieg heimgesucht hat. Ein allgemeiner europäischer Kongress wäre dafür ein geeigneter Ort. Dort ließe sich über das Wünschbare im Lichte des Möglichen reden.