Zögernde Taktik:Die Mär von den roten Linien

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Westliche Staaten drohen gern mit Vergeltungsschlägen, doch im Ernstfall setzen sie lieber nur auf Sanktionen.

Von Moritz Baumstieger

Politiker bemühen gerne die Metapher der Linie, sie klingt nach festen Prinzipien. Auch bei der Frage, wie der Westen auf mutmaßliche Verbrechen des Regimes von Baschar al-Assad im syrischen Bürgerkrieg reagieren sollte, war oft die Rede von roten Linien. Eine solche hatte Barack Obama im August 2012 gezogen: Wenn Assad Chemiewaffen gegen das eigene Volk einsetze, werde man reagieren, sagte der damalige US-Präsident.

Obamas rote Linie erwies sich jedoch als sehr elastisch. Obwohl Damaskus nach russischer Vermittlung vorgab, seine Chemiewaffen unter internationale Kontrolle zu stellen, folgte im Dezember 2012 ein erster Giftgas-Angriff in Homs. Nach Informationen westlicher Geheimdienste führte ihn die syrische Armee aus, genau wie viele weitere, die folgten. Trotz Obamas Drohung passierte: nichts.

Obamas Zurückhaltung lässt sich in seiner gesamten Nahostpolitik ablesen: Der Vorgänger von Donald Trump war in erster Linie darauf bedacht, Fehler zu vermeiden. Vor allem solche, die durch voreiliges Handeln verursacht werden könnten.

Srebrenica, Irak, Libyen - diese drei Ortsmarken gibt Derek Chollet als Chiffren an, die Barack Obamas Überlegungen zu einem möglichen Eingreifen von Nato oder den USA in Syrien dominierten. Chollet diskutierte damals viel mit dem Präsidenten, wie er in seinem Buch "The Long Game" beschreibt, er war Strategieberater für Internationale Sicherheit im US-Verteidigungsministerium.

Im jugoslawischen Bürgerkrieg hatte der Westen erst nicht eingegriffen und so in Srebrenica einen Völkermord zugelassen. Im Irakkrieg 2003 hatten die USA zwar schnell Diktator Saddam Hussein gestürzt, aber sie besaßen keine langfristige Strategie für die Zeit danach. In Libyen verhinderte man durch ein Eingreifen, dass ein Diktator Krieg gegen das eigene Volk führte, aber wieder gab es keinen Plan für die Nachkriegszeit. Obama zog aus diesen Beispielen die Lehre: Nie wieder.

Als Trump im November 2016 gewählt wurde, stand er für einen Kurswechsel

Die Folgen von Obamas Zaudern sind heute Geschichte: Am 30. September 2015 griff Wladimir Putin auf Seiten seines Verbündeten Assads ein, mit seiner Luftwaffe verhalf Russlands Präsident den von iranischen Verbänden unterstützten syrischen Truppen zu Sieg um Sieg im Kampf gegen die Aufständischen. Homs, Ost-Aleppo, Ost-Ghouta, Daraa - das Vorgehen war stets gleich: Russische und syrische Jets zerbombten die Infrastruktur, Hubschrauber warfen Fassbomben über Wohngebieten ab. Und immer wieder tauchten schockierende Bilder im Netz und in den Abendnachrichten auf. Kinder und Erwachsene lagen tot da, mit Schaum vor dem Mund. Menschen mit Verätzungen wurden in provisorischen Kliniken mit Wasser abgespritzt. Und auch wenn Damaskus jedes Mal die "Terroristen" beschuldigte, die Angriffe gestellt oder selbst begangen zu haben, deuteten alle Indizien darauf hin, dass es Assads Truppen selbst waren, die Chlorgas oder sogar Sarin eingesetzt hatten.

Als Donald Trump im November 2016 gewählt wurde, stand er für einen Kurswechsel, vor allem auch in der Syrienpolitik. Im Wahlkampf hatte er versprochen, die USA aus unnötigen und teuren Kriegen zurückzuziehen, seit der Amtsübernahme verfolgt seine Regierung jedoch eine ambivalentere Politik. In gewisser Weise stellte sie das Vorgehen Obamas auf den Kopf: In der Frage, wie stark sich die USA in Syrien weiter mit Truppen engagieren sollen - im Kampf gegen die Terrormiliz IS verbündete sich Washington mit den syrischen Kurden - wurde aus Obamas zurückhaltender Linie ein Zickzack-Kurs. Das Pentagon plant teils das Gegenteil dessen, was Trump twittert, oft widerspricht sich der Präsident selbst. Dafür scheint die rote Linie wieder mehr zu gelten, die sein Vorgänger gezogen hatte.

"Babies, beautiful babies" - diese Worte wählte Donald Trump, als er der Welt erklärte, warum er 60 Cruise Missiles im April 2017 auf den syrischen Militärflughafen Shayrat abfeuern ließ. Wieder hatte es eine Giftgasattacke gegeben, wieder waren schwer zu ertragende Bilder toter Kinder um die Welt gegangen. Nach einem weiteren Angriff auf Duma bei Damaskus ein Jahr später griffen die USA sogar gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien an und zerstörten ein Forschungszentrum, in dem Chemiewaffen hergestellt und gelagert worden sein sollen.

Heute zeigt sich jedoch, dass eine rote Linie auch im Zickzack verlaufen kann. Nachdem der US-Geheimdienst berichtete, dass Assad den Einsatz von Chlorgas für die Offensive auf Idlib bereits genehmigt habe, warnte der US-Präsident seinen syrischen Amtskollegen öffentlich vor einem Einsatz chemischer Kampfstoffe. Dann weitete er diese Warnung aus und schrieb auf Twitter, die USA würden auch auf eine Offensive mit herkömmlichen Waffen reagieren. Wenige Tage später klingt diese Drohung nun ziemlich anders: Auch bei einem Chemiewaffeneinsatz müsse es nicht notwendigerweise ein militärischer Gegenschlag sein. Ökonomische Sanktionen, heißt es aus dem Weißen Haus, wären auch eine Möglichkeit.

© SZ vom 11.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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