Europa nach 1989:Wie Krisen durch Geschichte erklärbar werden

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Viele der aktuellen Probleme Europas werden verständlicher, wenn man sie in eine historische Perspektive stellt. Das tut Andreas Wirsching in seinem neuen Buch.

Rezension von Tim Schanetzky

So viel Krise war selten in und um Europa: Flüchtlingskrise, Staatsegoismen beim Streit um Flüchtlingsquoten, Attacken des IS auf Paris, Syrienkrieg und Islamfeindlichkeit, Rechtspopulismus, Euro- und Staatsschuldenkrise und schließlich die von der Ukraine-Krise geweckten Erinnerungen an den Kalten Krieg - niemand hielte es heute für eine gute Idee, eine europäische Erfolgsgeschichte zu schreiben.

Viele der gegenwärtigen Probleme Europas wird man besser verstehen, wenn man sie in eine historische Perspektive stellt. Das tut Andreas Wirsching in seinem neuesten Buch. "Demokratie und Globalisierung" blickt nüchtern-analytisch auf die jüngste europäische Geschichte, die gerade "keinem linearen Entwicklungsmodell" folgt.

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Ein historischer Rückblick in Bildern.

Der Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte geht problemorientiert vor, um auf wenig Raum eine gewaltige Stofffülle zu bewältigen. Den Zusammenbruch des Kommunismus nimmt er als Ausgangspunkt, um zwei entscheidenden Faktoren des Umbruchs nachzuspüren.

Erstens zeigte sich in Ostmitteleuropa die Strahlkraft des westlichen Modells: Parlamentarische Demokratie und Marktwirtschaft waren und blieben fast überall die politischen Zielvorstellungen, selbst angesichts der von den ökonomischen Schocktherapien der frühen Neunzigerjahre dramatisch verschärften sozialen Misere. Stabilisierend wirkte dabei vor allem das Streben nach der Mitgliedschaft in der EU.

Das Gegenbeispiel ist Jugoslawien: Eindrucksvoll schildert Wirsching das Wiederaufflammen des Nationalismus, den Staatszerfall und die hilflosen europäischen Reaktionen auf den Bürgerkrieg.

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(Foto: SZ)

Andreas Wirsching, Demokratie und Globalisierung. Europa seit 1989. Verlag C.H. Beck 2015, 248 Seiten, 14,95 Euro.

Zweitens veränderten sich Demokratie und Marktwirtschaft zu dieser Zeit aber auch im Westen, sodass die postkommunistischen Gesellschaften vor einem besonders schwierigen Anpassungsprozess an ein bewegliches Ziel standen. Gewiss war die Rede von der "Krise der Demokratie" übertrieben, aber sinkende Wahlbeteiligung und schwindende Milieuverankerung der Parteien, neuartige Erfolge von Rechtspopulisten und radikale Parteienkritik gab es überall.

Zu diesem Formwandel der Demokratie zählten nicht zuletzt die Reaktionen auf die Globalisierung: Einerseits kam es zu einer bis dato unbekannten Konvergenz der Lebensstile, andererseits zu Wettbewerbsdruck bei Löhnen, Sozialstandards und Steuern. Die Globalisierung kam nicht "irgendwie" über die Europäer, sondern war politisch ebenso gewollt wie das begleitende Mantra von Entstaatlichung, Deregulierung und Dienstleistungsökonomie. Es handelte sich um einen staatlichen Souveränitätsverzicht, der so lange konsensfähig war, bis der denunzierte Staat in der Finanzkrise seit dem Jahr 2008 dann doch wieder in die Bresche springen musste.

Die Krise Europas besteht in "nichts anderem als in seinem Zusammenwachsen."

Viele dieser scharfsinnigen Analysen finden sich bereits in Wirschings großer Geschichte Europas, die vor dreieinhalb Jahren erschien. Ihre Darstellung reichte bis in den Herbst 2011. Der neue, kompaktere Band schreibt die Geschichte jetzt für ein größeres Publikum fort und endet mit Ereignissen vom Beginn dieses Jahres.

Aber ist das bereits Geschichte? Das Problem tritt etwa in den gut abgewogenen Passagen über die Griechenland-Krise und die außenpolitischen Gehversuche der Europäischen Union im Ukraine-Konflikt hervor: Hier irritiert schon die sprachliche Vergangenheitsform, und den Leser beschleicht mitunter das ungute Gefühl, die historische Deutung könnte von der nächsten Wahl oder der nächsten Entscheidung einer Rating-Agentur wieder einkassiert werden.

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Dieses Risiko geht Andreas Wirsching bewusst ein und deshalb hat er nicht nur ein kluges, sondern auch ein mutiges Buch geschrieben. Es stellt die Geschichte der europäischen Institutionen und ihrer allmählichen Demokratisierung, besonders aber den Prozess der Erweiterung in einen gesellschafts- und mentalitätsgeschichtlichen Rahmen. So historisiert es die ubiquitäre "Krise Europas", denn eigentlich bestand diese ja in "nichts anderem als seinem Zusammenwachsen".

Tim Schanetzky ist Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Jena. Jüngst erschien von ihm "Regierungsunternehmer. Henry J. Kaiser, Friedrich Flick und die Staatskonjunkturen in den USA und Deutschland" (Wallstein).

© SZ vom 22.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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