Zeitgeschichte für Jugendliche:Straßen voller Blut

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Bewegendes Tagebuch aus dem Warschauer Ghetto, das die damals 17-jährige Mary Berg bei ihrer Ausreise in die USA mitnehmen konnte.

Von Robert Probst

Wenigstens oben auf dem Flachdach herrscht ein Hauch von Frieden und Optimismus. "Es ist angenehm, dort in der Sonne zu liegen, wo ich das Viertel hinter der Mauer sehen kann. Die weißen Türme einer Kirche sind ganz in meiner Nähe. Sie sind umgeben von Lindenzweigen, und der Duft dieser herrlichen Bäume reicht bis zu meinem Dach herüber. Weiter hinten stehen Privathäuser, die jetzt als deutsche Kasernen genutzt werden. Die Luft ist rein hier, und ich denke an die weite Welt, an ferne Länder und an die Freiheit."

Doch die Freiheit könnte nicht weiter entfernt sein als 1941 im Warschauer Ghetto. Ein damals 17 Jahre altes Mädchen hat diese Zeilen in ihr Tagebuch notiert. Sie konnte die teils in einer eigenen Geheimschrift verfassten Büchlein herausschmuggeln, als sie als eine von ganz wenigen das Ghetto verlassen durfte. Schon 1944 erschien der Bericht über Leiden und Sterben der Juden in Polen in den USA, wohin Mary Berg (geboren als Miriam Wattenberg) emigrieren durfte. Nun sind ihre Aufzeichnungen erstmals auf Deutsch als Buch veröffentlicht worden.

Unten auf der Straße herrscht das Grauen. Und Mary Berg schaut nicht weg, sie notiert alles, was sie sieht, hört und erlebt, mit teils schneidender Klarheit. "Die Mauern entlang saßen zusammengekauerte Menschen wie ausrangierte Lumpenbündel. An einer Stelle stolperte ich über einen menschlichen Körper. In der Dunkelheit fiel mir nicht auf, dass ich auf einen Leichnam getreten war. Es war eine halbnackte Leiche, nur mit ein paar flatternden Zeitungsblättern bedeckt, die der Wind vergeblich von den Steinen wegzureißen versuchte, die sie unten halten sollten", schreibt sie etwa im Oktober 1941.

Nach dem deutschen Überfall auf Polen wurde das Warschauer Ghetto im November 1940 eingerichtet, die Juden aus der Hauptstadt und aus anderen Städten wurden auf einem winzigen, von Mauern umgebenen Areal zusammengepfercht, das sie nicht verlassen durften. Bis zur Auflösung des Ghettos im Mai 1943 hausten insgesamt etwa eine halbe Million Menschen unter unvorstellbaren Bedingungen hier, nur wenige Tausend überlebten den NS-Terror. Die allermeisten Juden aus Warschau wurden im Vernichtungslager Treblinka ermordet. Allein deswegen ist jede Stimme aus dieser Hölle wertvoll.

Mary Berg war als Tochter einer US-Bürgerin (der Vater war ein polnischer Antiquitätenhändler) privilegiert. Sie lebte in einer der besseren Gegenden des Ghettos und blieb aufgrund von "Vitamin B" von körperlichen Schikanen der NS-Aufpasser weitgehend verschont. "Ich bin richtig selbstsüchtig geworden", schreibt sie in einer der seltenen reflektierenden Passagen über ihre einigermaßen gute Ernährung.

Die große Stärke dieses Tagebuchs ist die teils nur schwer erträgliche Genauigkeit der Schilderungen über Hunger, Erschießungen, Straßen voller Blut und die im Jahr 1942 einsetzenden Verschleppungen in die Todesfabriken. Auf der anderen Seite stehen die Anstrengungen, eine Art kulturelles und religiöses Miteinander aufrechtzuerhalten.

Mary Berg hatte großes Glück, sie konnte mit ihrer Familie in die USA ausreisen, kurz bevor die Massendeportationen und dann der Aufstand der Juden im Ghetto begann. Und sie legte Zeugnis ab über den Horror, über die Tapferkeit der Menschen und deren Wunsch, frei zu sein und zu leben. Eindringlich und bewegend. (ab 16 Jahren)

Mary Berg : Wann wird diese Hölle enden? Das Tagebuch der Mary Berg. Aus dem Englischen von Maria Zettner. Orell Füssli, Zürich 2019. 356 Seiten, 23 Euro.

© SZ vom 30.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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