Politik und der Faktor Zeit:Merkel und die Flucht vor der Pseudoaktivität

Lesezeit: 3 min

Wenn sich Politiker nach den Börsen-Öffnungszeiten richten müssen, wird klar: Merkel und Co. sind der Geschwindigkeit der Wirtschaft ausgeliefert. Zeitforscher Geißler über politische Trödelei.

L. Volkert

Karlheinz Geißler, 65, ist Zeitforscher und emeritierter Professor für Wirtschaftspädagogik. Er leitet das Institut für Zeitberatung "Times and more". Zuletzt veröffentlichte er das Buch Lob der Pause. Warum unproduktive Zeiten ein Gewinn sind (Oekom Verlag, 108 S.).

Die Politik muss sich an der Geschwindigkeit der Wirtschaft messen lassen. Viel Zeit für Pausen bleibt Kanzlerin Angela Merkel da nicht - leider. (Foto: online.sdeauto)

sueddeutsche.de: Bei der Finanzhilfe für Griechenland wurde der Bundesregierung vorgeworfen, sie habe zu langsam gehandelt, auch die langwierigen Koalitionsverhandlungen in Nordrhein-Westfalen wurden kritisiert. Werden wir von Trödlern regiert?

Karlheinz Geißler: Nein. Politik funktioniert in einem Tempo, das an die Postkutschenzeit erinnert. Ein Gesetzentwurf braucht von der Vorlage bis zur Verabschiedung im Bundestag durchschnittlich 225 Tage. Das ist normal - der demokratische Prozess braucht nun einmal so lange.

sueddeutsche.de: Wenn sich Politik im Postkutschen-Tempo bewegt, welche Geschwindigkeit hat dann die Wirtschaft?

Geißler: Doppelte Schallgeschwindigkeit, würde ich sagen. An der Züricher Börse werden 3000 Finanztransaktionen pro Sekunde getätigt.

sueddeutsche.de: Die Politik muss sich an dieser Geschwindigkeit messen lassen.

Geißler: Ja, das ist wirklich wahnsinnig. Wenn man sich vorstellt, dass sich Politiker schon gezwungen sehen, sich nach den Öffnungszeiten der Börsen zu richten! Während der Eurokrise im Mai konnten die europäischen Staatschefs wirklich von Glück reden, dass sie einen zusätzlichen Tag lang Zeit zum Verhandeln des Rettungsschirms hatten - weil am Sonntag keine Aktien gehandelt werden. Montag früh musste das Paket stehen, pünktlich zum Börsenbeginn in Japan.

sueddeutsche.de: Wurde die Finanzkrise auch durch diese Geschwindigkeit ausgelöst?

Geißler: Die Global Player sind der Illusion erlegen, dass sie in einer Welt ohne Pausen und Grenzen wirtschaften können. Doch Überblick und Durchblick kann man nicht in Höchstgeschwindigkeit bekommen. Die Finanzkrise hat gezeigt, dass das ins Fiasko führt, sie war gewissermaßen ein Zeitinfarkt.

sueddeutsche.de: Was hilft gegen den "Zeitinfarkt" in der Politik?

Geißler: Ganz einfach: Pausen. Man kann das Geschehen einen Moment von außen betrachten und vielleicht sogar hinterfragen, man kommt auf neue Gedanken. Politiker könnten in Pausen der gängigen Hektik und Pseudoaktivität entfliehen. Früher war das ganz normal: Bismarck hat sich gerne ein paar Wochen auf seine Güter zurückgezogen, um über Politik nachzudenken.

sueddeutsche.de: Empfehlen Sie das auch Angela Merkel?

Geißler: Unbedingt! Drei Wochen Uckermark, und schon sieht sie klarer. Aber im Ernst: Eine Pause ist keine untätig verschwendete Zeit, sondern eine Produktivkraft. Genauso wie das Warten, die Wiederholung, die Langsamkeit - lauter Zeitformen, die in unserer Gesellschaft einen schlechten Ruf haben. Völlig zu Unrecht.

sueddeutsche.de: Raten Sie zur Entschleunigung?

Geißler: Nein, wir brauchen die Schnelligkeit. Der Notarzt kann nicht mit dem Pferd ankommen, Politiker wie Unternehmer müssen auch mal rasch einen Entschluss fassen können. Ich bin aber für "Enthetzung", also für den Verzicht auf überflüssiges Tempo. Immer nur schnell zu denken und zu handeln, das kann nicht funktionieren.

sueddeutsche.de: Was hat es für Konsequenzen für die Demokratie, wenn Politiker keine Pausen mehr kennen?

Geißler: Viele wichtige Entscheidungen - von den Jobcentern bis zu den Hartz IV-Sätzen für Kinder - werden inzwischen vom Bundesverfassungsgericht getroffen. Warum? Vielleicht, weil es noch die Zeit hat, sich mit einem Problem auseinander zu setzen. An Gerichten gibt es vorgeschriebene Verfahren, an denen niemand rüttelt.

sueddeutsche.de: Die Gesellschaft für Zeitpolitik, deren Mitglied Sie sind, hat das Familienministerium vor der Einführung des Elterngeldes beraten.

Geißler: Ja, und ich bin sehr froh, dass das Elterngeld durchgesetzt wurde. Wir brauchen dringend abgesicherte Zeiträume, in denen wir uns unseren Kindern widmen können und trotzdem nicht verhungern. Vor allem Männer merken so, dass es neben der Hektik noch andere Zeitformen gibt.

sueddeutsche.de: Müssen wir mehr Zeit in den Nachwuchs investieren?

Geißler: Man kann das volkswirtschaftlich sehen, als Investition in "Human Capital". Aber ich meine eigentlich, dass es der Natur des Menschen entspricht, sich Zeit für seine Kinder zu nehmen. Man lebt nur gesund und zufrieden, wenn man vielfältige Zeitqualitäten erleben kann. Für unsere Gesellschaft heißt das: auch mal zur Besinnung kommen.

sueddeutsche.de: Warum fällt uns das so schwer?

Geißler: Jede Form von Schnelligkeit wird heute gefeiert, wer besonders flexibel und mobil ist, wird belohnt. Dadurch hat sich auch unsere Wahrnehmung verändert: Was heute als Trödelei empfunden wird, war früher schnell. Früher hingegen galt Langsamkeit als würdevoll. Bei den Römern wusste man: Wer schnell geht, ist ein Sklave.

© sueddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: