Wolfgang Schäuble wird 70:Der Diener des Staates

Lesezeit: 4 min

Glücklicher Sisyphos: "Es geht vorwärts, es geht rückwärts. Das immerwährende Bemühen, den Stein den Berg hinaufzubringen, das ist Politik." Der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble wird 70. Er wirkt seit 40 Jahren im Bundestag - als deutscher Europäer und europäischer Deutscher.

Heribert Prantl

Was wäre geschehen, wenn Napoleon bei Waterloo gewonnen hätte? Wenn nicht Kolumbus, sondern ein Araber Amerika entdeckt hätte? Oder wenn, ein paar Nummern kleiner, 2002 nicht Gerhard Schröder, sondern Edmund Stoiber bei der Bundestagswahl mit ein paar tausend Stimmen Vorsprung gesiegt hätte? Dieses bei Historikern etwas verpönte Was-wäre-geschehen-wenn-Spiel ist bei den Juristen kein Spiel, sondern eine ernsthafte Frage zur Feststellung des Ursachenzusammenhangs. Die Juristen stellen diese Frage auf Lateinisch und sprechen von der Conditio-sine-qua-non-Formel: Danach ist Ursache eine Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele.

Was wird das Bild sein, mit dem Wolfgang Schäuble in die Geschichte eingeht? (Foto: AFP)

Weil Wolfgang Schäuble ein Jurist ist, und zwar ein sehr guter, darf man ihm zum Geburtstag mit dieser Formel gratulieren. Deren Anwendung bringt nämlich etliche Erkenntnisse. Erstens: Ohne Wolfgang Schäuble würden die täglichen Nachrichten nicht mit "Berlin" beginnen, sondern mit "Bonn"; ohne Schäuble wäre Bonn Sitz von Parlament und Regierung auch des wiedervereinigten Deutschland geblieben. Zweitens: Ohne Schäuble wäre Angela Merkel nicht Bundeskanzlerin - sondern? Aber da endet die Auskunftskraft der Formel. Drittens: Ohne Schäuble wäre die deutsche Politik viel weniger europäisch. Viertens, fünftens - das darf zum Geburtstag jeder selber fortspinnen. Schäuble ist seit vierzig Jahren im Bundestag und davon seit gut drei Jahrzehnten in der vordersten Reihe der deutschen Politik.

Schäuble ist der letzte profilierte Europäer im deutschen Kabinett. Ohne ihn, den badischen Weltbürger, hätte Europa im Bundestag nicht seit politischen Ewigkeiten einen so beseelten Fürsprecher. Wolfgang Schäuble ist der Mann aus der alten Bonner Republik, der die neue Berliner Republik mit geschaffen hat und sie immer noch prägt. Er ist der einzige Staatsmann in der schwarz-gelben Koalition.

Was wird das Bild sein, mit dem Schäuble in die Geschichte eingeht? Schäuble beim Unterschreiben des Vertrags über die deutsche Einheit, den er ausgehandelt hat? Schäuble in Brüssel, wie er über die Grenzen der körperlichen Leistungsfähigkeit hinaus für Europa kämpft? Vielleicht wird es das Bild von einer Sternstunde des Deutschen Bundestags sein - der Debatte vom 20. Juni 1991: Da sitzt einer im Rollstuhl vor dem Pult, der unendlich leidend aussieht. Es ist ein Bild, welches das Vorher für immer vergessen lässt.

Eine historische Rede

Ein Tenniscrack war er ein Jahr vorher noch gewesen; und nun war er ein Krüppel, zusammengeschossen von einem Attentäter. Als dieser gezeichnete Mann nach nur zehn Minuten seine Rede beendete, hieß es, schon damals, es sei eine historische Rede gewesen. Ja, das war sie: Mit der Kraft dieser Rede ist Berlin wirklich Hauptstadt geworden. Es gelang Schäuble, dem schwankenden Bundestag klarzumachen, dass es nicht um einen Wettkampf zwischen zwei Städten gehe, sondern "in Wahrheit um die Zukunft Deutschlands".

Die CDU hat es Schäuble nicht gedankt, die Hauptstadt auch nicht. Als Schäuble später Bürgermeister in Berlin werden wollte, hat diese Partei es vorgezogen, einen Herrn namens Steffel zu nominieren. Dieses Ereignis gehört zu den exemplarischen Enttäuschungen im Leben des Wolfgang Schäuble, in einem Leben, in dem er fast alles gewesen ist, was ein Politiker werden kann - aber eben nur fast: Kanzler hätte er werden wollen, können, müssen; Bundespräsident auch. Kanzlerin ist aber die Frau geworden, die er einst, als er CDU-Chef war, zur CDU-Generalsekretärin gemacht hatte. Ohne dieses Amt hätte Merkel ihre große Karriere nie beginnen können.

Merkel war es dann freilich, die aus Rücksicht auf die FDP 2004 nicht Schäuble, sondern Köhler als Bundespräsidenten vorgeschlagen hat. Es kennzeichnet diesen Wolfgang Schäuble und es zeichnet ihn aus, dass er solche Demütigungen überwindet. Er stellt sich in den Dienst. Er ist, nicht nur als Innen- oder Finanzminister, ein Minister im besten Sinn des Wortes.

Lange hatte er sich in den Dienst Helmut Kohls gestellt, ihm die Macht gesichert und als vermeintlicher Kronprinz bis zum bitteren Ende bei Kohl ausgehalten. Dann hat er seiner Partei, der CDU gedient, als er sie 1998 geordnet in die Opposition führte. Dort wurde er vom Strudel der Spendenaffäre Kohls mitgerissen. Er hatte die Parteispende des dubiosen Waffenhändlers Schreiber zwar ordentlich bei der Parteikasse abgeliefert. Seine einmalige Dummheit bestand darin, dass er diesen anrüchigen, aber legalen Vorgang wochenlang verschwiegen und nicht vor dem Bundestag bekannt hat. Er hat für diesen Fehler mehr gebüßt als Kohl für seine ganze Affäre. Er kostete ihn den CDU-Vorsitz und die Kanzlerkandidatur. Schäuble dient. Jetzt dient er Merkel - sein Dienen hat eine Eigenschaft, die dem Finanzmarkt, für den er heute als Finanzminister zuständig ist, so fremd ist: Entsagung.

Freunde und Weggefährten haben im Herder-Verlag eine Festschrift zum Geburtstag Schäubles geschrieben. Sie heißt: "Der fröhliche Sisyphos". Schäuble vergleicht sich gern mit diesem Sisyphos: "Es geht vorwärts, es geht rückwärts. Aber das immerwährende Bemühen, den Stein den Berg hinaufzubringen, das ist Politik." Camus hat behauptet, dass Sisyphos ein glücklicher Mensch war. "Das", so sagt Schäuble oft, "bin ich auch."

Lothar de Maizière, der erste und zugleich letzte demokratisch gewählte Ministerpräsident der DDR, schreibt im Geburtstagsbuch, die Freundschaft mit Schäuble sei das "wichtigste Geschenk" , das ihm durch die deutsche Einheit zuteil geworden sei. Und er beschreibt seinen Freund mit dem Satz, "dass er von niemand mehr verlangt als von sich selbst". Von sich freilich, als Diener des Landes, verlangt Schäuble alles.

Jean-Claude Juncker, der Luxemburger Premier, sagt, dass der Sisyphos Schäuble "auch ohne Kanzlerwürden - und was für ein Kanzler er doch geworden wäre! - im wahrsten Sinn des Wortes Geschichte eigenhändig geschrieben" habe: Die deutsche und die europäische Einigung tragen Schäubles Handschrift.

Es gibt ein sehr spezielles Bild vom Sisyphos, eines, das man (genau aus dem Grund, den Juncker benennt) Schäuble zum Geburtstag schenken möchte: Es stammt vom Maler Wolfgang Mattheuer, der neben Werner Tübke und Bernhard Heisig zu den Hauptvertretern der Leipziger Schule gehört. Auf diesem Bild rollt Sisyphos nicht mehr den schweren Stein den Berg hinauf. Man sieht ihn vielmehr, wie er endlich mit Hammer und Meißel den Stein behaut und ihm seine Form aufzwingt. Das passt zu Schäuble. Das ist der besonders glückliche Sisyphos.

© SZ vom 18.09.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: