Die Menschen hinter der Internetplattform Wikileaks haben sich nicht auf ihre Medienpartner verlassen, um dem Skandal einen Namen zu geben: Die Adresse der Datenbank, die knapp 250.000 zum Teil geheime Dokumente des US-Außenministeriums im Internet zugänglich macht, lautet http://cablegate.wikileaks.org.
Was sind Cables?
Cable steht für Kabel, ein veraltetes Wort für ein Telegramm. Und die Endung -gate ist eine Anspielung auf die Watergate-Affäre, die 1974 den US-Präsidenten Nixon zu Fall brachte. Ob die Wikileaks-Veröffentlichungen eine ähnliche Sprengkraft haben, ist noch unklar. In jedem Fall schaden sie den USA, denn diese Kabel-Nachrichten sollten nie die Öffentlichkeit erreichen.
Die Erstellung solcher Depeschen ist so alt wie die Diplomatie selbst: Seit einigen Jahrhunderten hören sich Abgesandte im Ausland um, sammeln ihre Erkenntnisse und übertragen sie an die zuständigen Stellen in ihrer Heimat. Obwohl das längst nicht mehr per Telegramm geschieht, sprechen Diplomaten noch immer davon, Depeschen zu "kabeln", also durch die Telefonleitung zu schicken.
Die Berichte werden oft von Botschaftern oder Konsuln in den jeweiligen Ländern verfasst - viel häufiger jedoch von ihren Mitarbeitern. Sie enthalten Einschätzungen zur politischen Lage, Hintergrundinformationen oder auch Persönlichkeitsstudien einzelner Politiker.
Je nach Brisanz der Depeschen werden sie unterschiedlichen Geheimhaltungsstufen zugeordnet. Gut die Hälfte der jetzt veröffentlichten Kabel unterliegt keiner Geheimhaltungsstufe, etwa 40 Prozent sind als "vertraulich" eingestuft und sechs Prozent als "geheim". Ein vergleichsweise kleiner Teil - etwa 4000 der insgesamt knapp 250.000 Dokumente - trägt den Vermerk "secret/noforn" (no foreigners). Sie sind so brisant, dass sie auf keinen Fall in die Hände von Ausländern gelangen sollen.
Dass sie nun der ganzen Welt zugänglich sind, ist für die Amerikaner schmerzlich - auch wenn viele Depeschen nicht mehr sind als äußerst subjektive Eindrücke von Diplomaten.
Philip Murphy hat derzeit nicht den angenehmsten Job. Der US-Botschafter in Berlin hat viele der Depeschen unterzeichnet, die für deutsche Politiker wenig schmeichelhaft ausfallen. Eine Entschuldigung lehnt Murphy jedoch ab: "Das Schreiben der Berichte gehört zu unseren wichtigsten Aufgaben", sagte er dem Spiegel. Murphy findet, er und seine Mitarbeiter hätten nur ihre Jobs gemacht.
Interaktiver Zeitstrahl zu Wikileaks:Zwischen Enthüllung und Eklat
Textnachrichten vom 11. September 2001, Dokumente aus Afghanistan und Hunderttausende Depeschen: Seit vier Jahren macht Wikileaks mit enthüllten Geheimnissen Schlagzeilen. Jetzt wurde der Gründer der Seite, Julian Assange, festgenommen. Eine Chronologie.
Es ist die Aufgabe eines Diplomaten, stets die Etikette zu wahren, sich dem Protokoll zu unterwerfen und seinem Gastgeber in jeder Lage die größte Wertschätzung zu erbieten. Sich also diplomatisch zu verhalten. So macht er sich bei ausländischen Staatsmännern beliebt, was für seinen Job äußerst wichtig ist. Wenn er jedoch mit seinen Vorgesetzten in der Heimat kommuniziert, ist zu viel Höflichkeit fehl am Platze.
Die von Wikileaks veröffentlichten Dokumente zeugen davon, wie ungeschminkt amerikanische Diplomaten über die Lage in ihrem jeweiligen Land Bericht erstatten. Bundesaußenminister Westerwelle? Ein aggressiver, inkompetenter Außenpolitik-Neuling. Kanzlerin Merkel? Unkreativ, nicht zum Risiko bereit.
Viele solcher Aussagen entstehen unter dem Eindruck der täglichen Presseschau der Botschaften. So bezeichnete die Süddeutsche Zeitung Angela Merkel am 24. August 2009 als "Teflon-Kanzlerin", weil im Bundestagswahlkampf alle Angriffe der SPD an ihr abglitten. Wenige Tage später, am 9. September 2009, wurde die Kanzlerin in einer von US-Botschafter Murphy unterschriebenen Depesche als "Angela 'Teflon' Merkel" bezeichnet.
Das Leitartikel-Wissen verbindet der Diplomat mit Informationen aus Gesprächen, die er mit seinen Quellen führt. Das können Regierungsbeamte sein oder auch willige Parteigänger - wie jener anonyme FDP-Mann, der Murphy während der Koalitionsverhandlungen 2009 auf dem Laufenden gehalten haben soll.
Auch sind Spionage und Diplomatie eng miteinander verwandt - Botschaften sind traditionell ein Ort, an dem Geheimdienstinformationen zusammenlaufen. "Auf Fragen zu geheimdienstlichen Tätigkeiten antworte ich nicht", sagte Murphy dem Spiegel.
Wenn Presseberichte, subjektive Einschätzungen und geheimnisvolle Quellen zusammenkommen, ist das Ergebnis nicht selten eines, das allenfalls zur Beratung hinzugezogen werden kann. "Gefährliches Geschwätz" nennt das die Süddeutsche Zeitung.
Umso mehr ärgert sich die US-Regierung darüber, dass die Medienpartner von Wikileaks - der Spiegel, die New York Times, der Londoner Guardian, Le Monde aus Paris und El País aus Madrid - teilweise so tun, als hätten sie die offizielle Meinung der USA zur Außenpolitik aufgetan. Der Spiegel titelt beispielsweise: "Enthüllt - Wie Amerika die Welt sieht."
Dass es die eine, allumfassende Weltsicht der USA ohnehin nicht gibt und die Geheimpapiere größtenteils Einzelmeinungen darstellen, geht dabei unter. Der erboste US-Botschafter Murphy in Berlin drückt es so aus: Wikileaks habe Dokumente veröffentlicht, die "die der Welt keinen Gewinn liefern, aber dafür erheblichen politischen und persönlichen Schaden anrichten".
Die Depeschen stammen aus der gleichen Quelle wie die zuvor durchgesickerten Irak- und Afghanistan-Protokolle, die ebenfalls bei Wikileaks erschienen. Sie wurden über ein US-Regierungs-Computernetzwerk verschickt, das Secret Internet Protocol Router Network (SIPRNet).
Etwa 2,5 Millionen Menschen sollen Zugriff auf dieses Netzwerk haben - vor allem Beamte des US-Verteidigungsministeriums. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 sei der Personenkreis deutlich erweitert worden, um die Terrorabwehr zu stärken, berichtet John Kornblum, ehemals US-Botschafter in Berlin.
Je mehr Menschen Zugriff haben, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass etwas an die Öffentlichkeit dringt. Dennoch zeigte sich Kornblum im ZDF- Morgenmagazin "schockiert" darüber, wie einfach das sei. Aus der Stärke des Systems - die umfassende Kommunikation zwischen den Regierungsstellen - sei eine Schwäche geworden.
Während die Medienpartner von Wikileaks nur ausgewählte Depeschen zitieren, zum Teil nach Absprache und mit Rücksicht auf US-Behörden, ist auf der Website der Whistleblower der komplette Datensatz zu lesen.
Allerdings hat sich der Wikileaks-Gründer und selbsternannte "Chefredakteur" Julian Assange am vergangenen Freitag nach eigenen Angaben mit einem Brief an die amerikanische Botschaft in London gewandt. Darin forderte Assange die US-Regierung auf, ihm die Namen der Personen zu nennen, die durch eine Veröffentlichung der Dokumente einer signifikanten Gefahr ausgesetzt seien. Das US-Außenministerium lehnt Verhandlungen mit Wikileaks jedoch strikt ab und forderte Assange auf, die Datenbanken komplett zu löschen.
Wie der Dokumentensatz zustande gekommen ist, ist unklar. Ob der Informant - höchstwahrscheinlich handelt es sich um den US-Army-Soldaten Bradley Manning, der in Haft sitzt - bestimmte Depeschen ausgewählt hat oder beim Kopieren der Daten eingeschränkt oder unterbrochen wurde, ist nicht überliefert.
Sicher ist hingegen, dass keine Dokumente der höchsten Geheimhaltungsstufe ("top secret") enthalten sind - für ihre Verbreitung benutzt die US-Regierung einen gesonderten, besonders gesicherten Kanal, zu dem der Informant offenbar keinen Zugang hatte.
Auch die deutschen Botschaften und Generalkonsulate sind durch ein Computernetzwerk verbunden, auch hier gab es bereits eine Panne: Im Jahr 2001 wurde eine Depesche des damaligen Botschafters in den USA, Jürgen Chrobog, bekannt, die auf diplomatischer Ebene erheblichen Ärger auslöste. Chrobog beschrieb ein Gespräch des damaligen Bundeskanzlers Schröder mit dem US-Präsidenten Bush, in dem es darum ging, dass der libysche Revolutionsführer Gaddafi die Beteiligung am La-Belle-Attentat in Berlin gestanden habe.
Der ehemalige Botschafter und Nachfolger Chrobogs in Washington, Wolfgang Ischinger, sagte im Hinblick auf die Wikilieaks-Enthüllung, es sei für Diplomaten unabdingbar, scharf zu formulieren. Es sei bei wichtigen Verhandlungen mit anderen Ländern die Aufgabe deutscher Botschaften, herauszufinden, wo die "Schwachpunkte der anderen Seite" lägen, sagte Ischinger der Frankfurter Rundschau. "Ist da einer angreifbar, der Trunksucht verfallen, für Korruption anfällig oder sonst was. Da müssen Dinge betrachtet und benannt werden, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind."
Wenn er sich nicht sicher gewesen wäre, dass "meine Berichte zum Beispiel über den Zustand der Regierung Bush zumindest für 30 Jahre unter Verschluss bleiben würden, hätte ich manches nicht aufschreiben können oder wollen", sagte Ischinger. "Ich hätte ja befürchten müssen, dass ich nicht nur meine eigenen Beziehungen zu meinen Gesprächspartnern aufs Spiel setzte, sondern auch die Beziehungen der deutschen zur amerikanischen Regierung gefährdete", berichtet der heutige Chef der Münchner Sicherheitskonferenz.
Die größte Sprengkraft dürfte die Wikileaks-Enthüllung im Nahen Osten entwickeln. Dass führende Politiker arabischer Golfstaaten die USA zu einem Luftschlag gegen Irans Atomanlagen drängten, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zu diplomatischen Verwicklungen führen. Muslimische Hardliner könnten außerdem gegen ihre Regierungen aufbegehren, weil die laut den US-Depeschen direkt mit Israel zusammenarbeiten.
Der ehemalige US-Botschafter in Berlin, John Kornblum, rief im ZDF- Morgenmagazin das Ende der "Ära des vertraulichen Gesprächs" aus. Diplomaten müssten in Zukunft anders arbeiten - weniger Einzeldaten sammeln und mehr Analyse liefern. Auch der frühere deutsche Botschafter in Washington, Wolfgang Ischinger, sieht einen "schweren außenpolitischen Schaden."
Die Bundesregierung zeigte sich besorgt: Die Enthüllungen könnten "zu politischen Verwerfungen führen, die wichtige politische Prozesse stören", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Ähnlich äußerte sich der Sprecher des Auswärtigen Amts, Andreas Peschke: "Es ist nicht auszuschließen, dass Sicherheitsbelange unseres Landes und unserer Verbündeten in schadhafter Weise beeinträchtigt worden sind." Es handele sich um "einen Vorgang von möglicherweise erheblicher außenpolitischer Tragweite".
Was die bilateralen Beziehungen angeht, bemühen sich beide Seiten um eine unaufgeregte Einschätzung. "Das deutsch-amerikanische Verhältnis ist eine gewachsene Freundschaft, die durch solche Veröffentlichungen nicht ernsthaft beschädigt wird", sagte Seibert. Die Auswirkungen in diesem Bereich seien "vernachlässigenswert". Auch am Umgang mit US-Politikern werde sich von deutscher Seite nichts ändern.
US-Außenministerin Hillary Clinton hatte ihren deutschen Amtskollegen Guido Westerwelle bereits am Freitag telefonisch kontaktiert und vorgewarnt. US-Botschafter Murphy wurde im Kanzleramt vorstellig. "Wir hatten in unseren Beziehungen in den vergangenen 60 Jahren schon härtere Situationen durchzustehen", sagte Murphy dem Spiegel. Vielleicht werde es "hier und da ein wenig zerschlagenes Porzellan" geben.
Regierungssprecher Seibert ließ immerhin durchblicken, dass die amerikanischen Einschätzungen - Westerwelle inkompetent, Merkel nicht risikobereit - zu einer gewissen Verärgerung geführt haben könnten: Diese Analysen seien aus Sicht der Bundesregierung "nicht sehr interessant" und "eher auf einem Niveau des Lästerns" einzuordnen.